Unter der Last der Geschichte. Neonazismus und Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Heinrich von Lersner

Unter der Last der Geschichte. Neonazismus und Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland

Vortrag von Dr. Heinrich Freiherr von Lersner am 20. Juli 1965 in der Bonner Beethovenhalle

Das politische Verhalten eines Staates in der Völkergemeinschaft ist ebenso stark durch die Geschichte bedingt wie das Verhalten eines Menschen durch seine Vergangenheit. Beiden wird es nie gelingen können, ihr Handeln und die Reaktion der Umwelt auf dieses Handeln völlig von Ereignissen zu lösen, die vergangen und scheinbar abgeschlossen sind. In der heutigen Völkergemeinschaft gibt es kaum einen Staat, bei dem sowohl seine Politik als auch das Verhalten der anderen Staaten zu dieser Politik stärker durch Ereignisse der Vergangenheit bedingt ist als bei der Bundesrepublik Deutschland. Diese Last der Geschichte, unter der das deutsche Volk heute so schwer trägt, hat es vor allem zwei Ereignissen zu verdanken, der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft über weite Teile Europas und der Verfolgung der europäischen Juden während dieser Herrschaft.

Obwohl seit dem Zweiten Weltkrieg zwanzig Jahre verflossen sind und längst eine Generation erwachsen ist, die diesen Krieg nicht mehr bewusst erlebt hat, hängen Erfolg und Glaubwürdigkeit der deutschen Politik immer noch davon ab, ob sie die Gewähr dafür bietet, dass diese Ereignisse sich nicht wiederholen. Bundesregierung und Parlament waren sich dieser Tatsache stets bewusst. Sie haben deshalb alles in ihren Kräften Stehende getan, um jedes Anzeichen eines Fortbestehens oder Wiederauflebens nationalsozialistischen Gedankengutes aufmerksam zu beobachten und rechtzeitig die erforderlichen Gegenmaßnahmen zu treffen. Alljährlich erstattet der Bundesminister des Innern der Öffentlichkeit des In- und Auslandes Bericht über Stärke und Gefahr rechtsradikaler und antisemitischer Bestrebungen im Bundesgebiet und über die Maßnahmen, die zu ihrer Bekämpfung getroffen wurden.

Ein Vergleich dieser Berichte aus den letzten Jahren zeigt, dass der organisierte Rechtsradikalismus keine nennenswerte Kraft mehr darstellt, die das politische Leben der Bundesrepublik oder gar die Entscheidungen ihrer Organe beeinflussen kann. Die Mitgliederzahlen rechtsradikaler Organisationen sind von 78.000 im Jahre 1954 auf 22.500 im Jahre 1964 gesunken. Die Organisationen selbst (1964 waren es noch 119) führen das Dasein von unter sich zerstrittenen Sekten, die in einem ständigen Kreislauf von Spaltungen und Fusionen befangen sind, ohne bisher eine Chance gefunden zu haben, aus diesem Kreis auszubrechen.

Bei den Bundestagswahlen am 19. September 1965 konnten die Gruppen der äußersten Rechten nur 2,2 v. H. der Wählerstimmen erhalten, gegenüber 96,4 v. H. Stimmen für die Parteien, die eindeutig auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehen. Ähnlich bedeutungslos sind die Auflageziffern rechtsradikaler Presseorgane. 1964 betrug die durchschnittliche Gesamtauflage der rechtsextremen Presseerzeugnisse, unter denen sich keine einzige Tageszeitung befindet, weniger als 200.000, während allein die demokratische Tagespresse täglich über 20 Millionen Exemplare druckt.

Geht man allein von diesem Zahlen aus, so müsste man zu dem Schluss kommen, dass Deutschland hinsichtlich der Gefahr eines Wiederauflebens des Nazismus sorglos in die Zukunft blicken kann. Ein solches allein an Mitgliederzahlen und Auflagehöhen orientiertes Urteil wäre zweifellos zu oberflächlich. Niemand kann die Augen vor Ereignissen verschließen, die zwar keine aktuelle Gefahr darstellen, aber doch den Keim zukünftiger Gefahren in sich bergen können.

So haben gerade in letzter Zeit die Ausschreitungen wieder zugenommen, die nach dem äußeren Tatbild auf neonazistische oder antisemitische Motive schließen lassen. Dies gilt vor allem für antisemitische Schmierereien, die nach dem Bamberger Fall sprunghaft zugenommen haben. Diese bedenklichen Erscheinungen werden in dem nächsten Jahresbericht des Bundesinnenministeriums näher untersucht werden. Die bisherigen Ermittlungsergebnisse lassen es unwahrscheinlich erscheinen, dass es sich dabei um Aktionen des organisierten Rechtsradikalismus handelt. Nach wie vor besteht die Mehrzahl der gefassten Täter aus Kindern, Betrunkenen, Schwachsinnigen oder politischen Wirrköpfen. Auffällig ist dabei wieder die psychologisch erklärbare Erscheinung, dass ein Initialfall, der die öffentliche Meinung stark erregt, eine Welle politisch unmotivierter, ähnlicher Fälle auslöst, eine Erscheinung, die die Kriminologie auch bei anderen Verbrechensarten kennt. Ein anschauliches Beispiel bietet der Fall des Bamberger Schmierers Woitzek, dessen Tat mit Recht Abscheu und Empörung im In- und Ausland hervorgerufen hat. Wegen des Ausmaßes und der Häufigkeit der damals in Bamberg angerichteten Verwüstungen war damals weithin vermutet worden, es müsse eine ganze Bande von Antisemiten dahinterstehen.

Ohne dem noch ausstehenden Gerichtsurteil vorgreifen zu wollen, kann schon jetzt gesagt werden, dass es sich um die Taten eines einzelnen minderjährigen Psychopathen gehandelt hat. Soweit er für seine Taten strafrechtlich verantwortlich gemacht werden kann, erwartet ihn eine strenge Strafe. Wenn auch von derartigen Hakenkreuzschmierern und Friedhofschändern keine akuten Gefahren für die menschliche Gesellschaft oder für die verfassungsmäßige Ordnung ausgehen, so halten sich die staatlichen Organe doch im Hinblick auf die Ereignisse der Vergangenheit und die noch unvernarbten Wunden der Opfer der Gewaltherrschaft, aber auch um der Wahrung und Festigung des Ansehens unserer Demokratie willen für verpflichtet, derartigen Erscheinungen mit Entschiedenheit entgegenzutreten.

In den letzten Monaten häuften sich auch die Fälle von offensichtlich politisch motivierten anonymen Drohungen und Beleidigungen gegenüber Politikern, Geistlichen, Schriftstellern und Künstlern, die ihre persönliche Meinung über Fragen wie die der Oder-Neiße-Linie geäußert haben. Die Vertreter der demokratischen Kräfte des Volkes einschließlich der berufenen Sprecher der Vertriebenenorganisationen haben sich scharf von derartigen Zeichen eines politischen Vandalismus distanziert. Trotzdem werden die Organe der Exekutive wachsam sein müssen, damit nicht zukünftige innen- und außenpolitische Auseinandersetzungen und die Unzufriedenheit bestimmter Teile der Bevölkerung erneut einen Nährboden für politisches Rowdytum nazistischer Prägung ergeben.

In zunehmendem Maße versucht auch eine Reihe nicht organisationsgebundener extrem nationalistischer Zeitschriften und Verlage durch geschickte Behandlung allgemein interessierender Themen auch solche Bevölkerungskreise anzusprechen, die rechtsradikalem Gedankengut nicht oder nicht mehr aufgeschlossen sind und die seit Jahren demokratischen Parteien ihr Vertrauen und ihre Stimmen gegeben haben. So wird in unverantwortlicher Weise die durchaus notwendige Diskussion der Historiker über die Ursachen der beiden letzten Kriege missbraucht, um ein Regime zu entschuldigen, an dessen historischer Schuld kein Vernünftiger mehr zweifelt.

Offensichtlich soll damit propagandistisch das Feld für eine allgemeine Rechtfertigung des Nationalsozialismus und seiner Gewalttaten vorbereitet werden - häufig durch Leute, die in der „Bewegung“ führende Stellungen bekleidet haben. Niemand bestreitet der Wissenschaft das Recht, historische Erkenntnisse immer wieder neu zu überprüfen. Wir wehren uns aber ganz entschieden dagegen, dass die Feinde der Demokratie sich durchaus fragwürdiger historischer Thesen bedienen, um damit unsere freiheitliche Grundordnung zu untergraben und für eine vergangene Gewaltherrschaft zu werben. Noch ist nicht vorgesehen, dass auch Hitler einst mit der agitatorischen Ausschlachtung der Kriegsschuldfrage der Sprung aus den Hinterzimmern der Kneipen in die gefüllten Versammlungshallen gelang. Auch kulturpolitische Themen werden auf ähnliche Weise zu durchsichtigen politischen Zwecken ausgebeutet.

All diese Erscheinungen, die nicht verharmlost werden dürfen, wirken verständlicher Weise gerade auf diejenigen Mitbürger alarmierend, die selbst Opfer nationalsozialistischer Gewalttaten und Verfolgungen waren. Aus Kreisen der Widerstandskämpfer- und Verfolgtenorganisationen wird deshalb auch oft gegenüber den Erfahrungsberichten des Bundesministers des Innern eingewandt, sie gäben deshalb kein zuverlässiges Bild von der Stärke der rechtsradikalen Kräfte in Deutschland, weil sie lediglich eindeutig rechtsradikale Organisationen und Publikationen berücksichtigen, nicht aber die latenten nationalistischen Strömungen und antisemitischen Vorurteile in Bevölkerungsgruppen, die sich politisch nicht binden oder ihre Stimmen den demokratischen Parteien geben. Dem ist entgegen zu halten, dass sich die Behörden bei der Beurteilung politischer Strömungen zunächst an das halten müssen, was exakt feststellbar ist. Wahlergebnisse, Organisations- und Mitgliederzahlen, die geringen Auflageziffern der Publikationen und die Finanznot der Gruppen sind Merkmale, die die Schlussfolgerungen der Berichte rechtfertigen. Ob und inwieweit darüber hinaus noch in der Bevölkerung nationalistisches oder antisemitisches Gedankengut vorhanden ist, entzieht sich exakter Berechnung. Meinungsumfragen und die weithin freimütig geäußerte Meinung der Nachkriegsgeneration lassen jedoch den Schluss zu, dass derartige antidemokratische Vorstellungen nur mehr bei einer Minderheit des Volkes zu vermuten und auch dort im Rückgang begriffen sind.

Es kann aber auch nicht oft genug davor gewarnt werden, von der Einstellung der deutschen Bevölkerung zu aktuellen Tagesfragen, wie die der deutschen Ostgrenzen oder der Waffenlieferungen an Israel, Schlüsse auf die Glaubwürdigkeit ihrer demokratischen Gesinnung zu ziehen. Die zuständigen Behörden werden allerdings auch darauf achten müssen, dass die noch vorhandenen rechtsextremen Kräfte nicht die Auseinandersetzungen über solche das deutsche Volk bewegenden Fragen ausnützen, um mit Mitteln „schrecklicher Vereinfachung“ und demagogischer Ausnutzung der Anliegen bestimmter Bevölkerungskreise neue Anhänger zu werben. Solchen Rattenfängern zu begegnen ist auch in Zukunft Aufgabe aller demokratischen Kräfte, besonders der öffentlichen Meinung, der Parteien, Gewerkschaften und Schulen. Die Behörden der Bundesrepublik, denen die Aufgabe übertragen ist, die Verfassung vor allen Angriffen und Infiltrationsversuchen totalitärer Ideologien - ob sie nun von rechts oder links kommen - zu schützen, bedürfen dabei nicht zuletzt der Unterstützung derjenigen Mitbürger, die am eigenen Leibe die Auswirkungen der Gewaltherrschaft erlitten haben.






Weitere Reden

20.07.1965
Karl Gumbel
20.07.1965
Dr. Fabian von Schlabrendorff
Dr. Fabian von Schlabrendorff