Menschlichkeit als höchstes Prinzip

Uri Themal

Menschlichkeit als höchstes Prinzip

Gedenkworte des Rabbiners Uri Themal am 20. Juli 1969 in der Kirche Maria Regina Martyrum, Berlin

Die diesjährige Veranstaltung zum Gedenken an die Opfer des 20. Juli sollte keine Gedenkfeier im üblichen Sinne sein. Denn 25 Jahre nach Kriegsende in einer Epoche, in der geistige und gesellschaftliche Strukturen in Fluss geraten, einer Epoche, in der Akzentverschiebungen gesellschaftliche Wandlungen herbeiführen, bekommt die Frage des Widerstands als grundsätzliche Frage besondere Bedeutung. Die von uns betrauerten Opfer des braunen Terrorregimes, die ihre Leben für ihre Überzeugung lassen mussten, die durch Mut und persönlichen Einsatz der Welt ein Vorbild wurden und die Unfähigkeit auch des schärfsten Terrors aufzeigten, Geist und Seele zu beeinflussen, sind heute in ihrer Symbolkraft über ihre eigenen Persönlichkeiten hinweg in die breite Sphäre eines Prinzips aufgestiegen: Die Dokumentation des persönlichen Rechts auf Widerstand und die moralische Grundlage des Kampfes gegen Manipulation und Unterdrückung.

Dadurch wird dem Einzelnen gezeigt, dass er nicht nur das Recht, sondern die absolute Pflicht hat, sich mit den geistigen und politischen Problemen seiner Zeit und der Geschichte auseinander zu setzen und, zur Not, selber darüber urteilen zu müssen, in welcher Art und Weise von ihm Taten verlangt werden, die etwaige Missstände abändern sollen. So werden die Märtyrer des 20. Juli zum Symbol aller Menschen, die an weniger prominenter Stelle genannt werden oder sogar in der Anonymität der Geschichtsschreibung verschwinden, die sich aber menschlich in ihrer Haltung mit jenen identifiziert haben. Gemeint sind die „unbesungenen Helden”. Jener Jedermann also, der sterntragenden Müttern einen Apfel in den Kinderwagen warf, weil er wusste, dass die Jüdin eine solche Delikatesse nicht bekam. Jener, der einen Verfolgten versteckte, weil er trotz Propaganda verstand, dass die Verfolgung aus krankhaft kriminellen Gehirnen entsprungen war. Jener, der sich einer Partisanen-Gruppe anschloss, um gegen das Unrecht zu kämpfen. Es war im Namen dieser Menschen, die eine verschwindend kleine Minorität darstellten und gleichzeitig für jene Masse, die es nicht verstanden hatte, dieser Minorität zu folgen, dass wir die Vision vom messianischen Zeitalter am 25. Jahrestag der Hinrichtung dieser Opfer verlasen. Denn es entspricht dem Geist der jüdischen Tradition, zu glauben, dass jede Generation die Pflicht hat, dafür zu wirken, dass die Menschheit dem messianischen, dem friedlichen Zeitalter einen Schritt näher kommt. Und die Meilensteine auf diesem Weg sind Menschen aller Konfessionen und aller Rassen, die, unbeirrt von den Einflüssen ihrer eigenen Generation, aus der Geschichte die Werte übernommen haben, deren ewiger Charakter keine Grenzen von Zeit oder Volk oder Gesellschaft kennt; die Maßstäbe also, denen grundsätzliche menschliche Prinzipien zugrunde liegen wie Brüderlichkeit, Gerechtigkeit und die Erfüllung der moralischen Verantwortung dieser Welt gegenüber – unabhängig von Einzelnen, die unsere Gesellschaft führen.

Und so ist von besonderer Bedeutung, dass gerade der 25. Jahrestag, der dieser Märtyrer gedenkt, ein Tag war, an dem die Erinnerung die Grenzen der Konfession sprengte. Der schönste und erhabenste Gedenkstein für die Opfer des Widerstandes konnte sein, dass Vertreter verschiedener Konfessionen – einschließlich der jüdischen – gemeinsam dieser Männer und Frauen gedacht haben.

Denn wenn es ein Grundübel gab in dieser Welt, dann war es das, dass 2000 Jahre moderne Geschichte 2000 Jahre Verfolgung des Judentums waren. Und es wird höchste Zeit, zu erkennen, dass es gerade dieser Kampf war, der Auschwitz und Treblinka, Rotterdam und Filetto möglich machte. Denn es war genau dieser Kampf, der in die Gehirne von Generationen das Gift spritzen konnte, das die systematische Verfolgung, das Verbrennen von Büchern und Gotteshäusern und das Martyrium von Millionen als etwas Legitimes möglich machen konnte. So war es höchste Zeit, die Geschichte als ein Lehrbuch zu betrachten, aus dem man lernen kann. Wir sind an dem Punkt angelangt, wo wir verstehen müssen, dass Brüderlichkeit nicht auf gleich Denkende beschränkt sein darf, sondern im Gegenteil jene einschließt, die anders denken. Wir müssen verstehen lernen, dass es nicht darauf ankommt, den anderen von unseren Ideen zu überzeugen, um ihn dadurch zu zwingen, auf unsere Seite zu kommen. Wir müssen lernen das „anders sein“ und „anders denken“ des anderen zu tolerieren und die Dinge, die uns gemeinsam sind, als Grundlage für ein konstruktives Zusammenleben zu benutzen.

Wenn Menschlichkeit als höchstes Prinzip Einzug halten soll in unsere Gesellschaft, dann muss der Grundsatz eines jeden Humanismus unser Banner werden, dargestellt in der bekannten Ring-Parabel, die schon vor Lessing dem großen Humanisten Reuchlin und vor ihm dem Talmud als das höchste Prinzip menschlichen Zusammenlebens erschien. So soll der geistige Gedenkstein der Opfer des Unrechtsregimes für jeden sichtbar durch diese Gedenkfeier den Vers des Psalmisten als Inschrift tragen: „Wie gut und wie schön ist es, wenn Brüder in Eintracht zusammenleben“, so dass auch unsere Generation es versteht, dem messianischen Zeitalter einen Schritt näher zu kommen – wie der Prophet sieht, wenn er am Schluss seiner Vision sagt: „Denn alle Völker werden gehen, jeder im Namen eines Gottes. Und wir werden im Namen des Ewigen unseres Gottes gehen für die Ewigkeit“.






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