Widerstand – Schule der Nation

Lothar Löffler

Widerstand – Schule der Nation

Rede des Bundestagsabgeordneten Lothar Löffler am 20. Juli 1969 in der Kirche Maria Regina Martyrum, Berlin

Vor 25 Jahren setzten die Frauen und Männer vom 20. Juli das sichtbarste, keineswegs das einzige Zeichen des deutschen Widerstandes gegen den ideologisch abstrus begründeten Unrechtsstaat der Nationalsozialisten. 25 Jahre sind eine lange Zeit, durch die die Ereignisse normalerweise eindeutig in den Bereich der Vergangenheit verwiesen und damit der Geschichte überantwortet werden. Allerdings nicht einer Geschichte, die nur registriert, etikettiert und katalogisiert, sondern einer Geschichte, wie sie Lessing verstanden wissen wollte, nach dem Geschichte nicht das Gedächtnis beschweren, sondern den Verstand erleuchten soll.

Unser Verhältnis, das wir als Volk zu den letzten Jahrzehnten unserer Geschichte haben, wird – wie ich meine – zutreffend durch das Wort von der unbewältigten Vergangenheit charakterisiert. Auch der Widerstand in den Jahren von 1933 bis 1945 ist Vergangenheit, ist noch nicht aufgearbeitet, noch nicht bewältigt, denn es muss zumindest bezweifelt werden, ob die Konsequenzen aus den Ereignissen von 1933 bis 1945 und davor bereits eindeutig gezogen sind und von den heute politisch Handelnden angemessen berücksichtigt werden. Fast scheint es so, als hätten wir uns das Bild vom deutschen Widerstand zu stark nach unseren augenblicklichen Bedürfnissen und Erfordernissen konstruiert.

Als Angehöriger der Nachfolgegeneration eines Widerstandskämpfers hat für mich die Frage, wie wir dem Vermächtnis des deutschen Widerstandes gerecht werden, eine besondere persönliche Bedeutung, weil die Antwort darauf über Sinn oder Nicht-Sinn eines Abschnittes der Entwicklung meiner Familie entscheidet – über Sinn oder Nicht-Sinn durchlebter Not, Erniedrigungen, Ängste und Verfolgungen. Ich erwähne diesen persönlichen Aspekt nicht, um irgendwelche Sonderstellungen aufzuzeigen. Es gibt da keine Sonderstellungen: Das politisch und historisch relevante Erleben – so unterschiedliche Züge es für den Einzelnen getragen haben mag – haben wir als Volk gemeinsam.

Was tun wir, um dem Vermächtnis des deutschen Widerstandes gerecht zu werden?

Wir bauen Mahnmale, wir halten Gedenk- und Würdigungsreden. So wichtig solche Dinge sein mögen – geklärt, ergründet, erforscht und bewältigt in dem Sinne, dass sich unser Verstand für die Aufgaben der Gegenwart erleuchtet, wird dadurch nichts. Häufig genügt es, einige Gedanken in sprachlich wirkungsvoller Form aneinander zu reihen, um zu erheben, zu beeindrucken oder zu erbauen. Dabei befindet man sich oft noch in geschlossener Gesellschaft. Letztlich kommt es dann nur noch auf die Form an, die in ein sich ständig wiederholendes starres Zeremoniell mündet, dessen Hintergründe immer weniger Menschen bekannt sind und dem deshalb immer mehr Menschen verständnislos gegenüberstehen – insbesondere auch junge Menschen, wie einige Hinweise in Presse und Rundfunk kürzlich gezeigt haben.

Ein solches Zeremoniell kann bestenfalls als Alibi für den heutigen Staat und für die heutige Gesellschaft betrachtet werden. Als Alibi, das da besagen will: Alle Kräfte, die in jeder Gesellschaft und in jedem Staat notwendigerweise mitbestimmen und entscheidend mitgestalten, haben Widerstand gegen Hitler geleistet. Habt Vertrauen zu diesen Kräften, die auch in unserem heutigen Staat wieder an verantwortlicher Stelle stehen. Habt Vertrauen zum Politiker, zum Diplomaten, zum General, zum Beamten, zum Gelehrten, zum Geistlichen.

Ein solches Vermächtnis hat sich kein Widerstandskämpfer verdient – sei er nun General oder Arbeiter, Gelehrter oder Buchhalter. Ein solches Bild wird auch nicht den vielen Tausenden von Widerstandstaten gerecht, die von Einzelnen oder ganz kleinen Gruppen aus einem ungebrochenen Verhältnis zu Recht und Menschenwürde – aus einem ungebrochenen Verhältnis zum politisch rationalen Handeln heraus begangen worden sind. Diese Taten haben nicht den Rang von geschichtlichen Ereignissen erhalten, aber gerade deshalb ist ihnen eine starke vorbildhafte Kraft innewohnend, denn sie zeigen, wie sich der Mensch in seinem normalen gesellschaftlichen Bezugsfeld zu verhalten hat. Vor 15 Jahren sagte der erste Bundespräsident, Professor Heuss: „Es gibt vom Ethischen her keinen Tarif der Ehre, der etwa die Verantwortung für sittliches Handeln und deren Beurteilung von den Sternen auf den Achselstücken abhängig sein lässt.“ Dem ist heute hinzuzufügen: Es sollte auch keinen Tarif der historischen Würdigung geben.

Es schadet gar nichts, wenn wir sagen, dass Widerstand der ewig erregende Kampf des Menschen mit seinem Gewissen zwischen den Polen des Irrtums, der Leichtgläubigkeit, der Bequemlichkeit und denen des Gefühls für Recht, Menschenwürde, der Rationalität und der Entschlossenheit ist. Dadurch werden wir nicht unehrlicher, unglaubwürdiger – nur ehrlicher, menschlicher und damit verständlicher in dem, was wir sagen wollen.

Wir werden dem deutschen Widerstand nicht gerecht, solange wir nicht schonungslos das System in allen seinen politischen, gesellschaftlichen ideologischen und geistigen – besser ungeistigen – Verzweigungen aufdecken, gegen das sich der Widerstand gerichtet hat. Auch hier gibt es noch viel aufzuarbeiten. Passt es in die politische Taktik, so wird das Gedenken an den Widerstand in die Ecke gestellt und man schlägt wieder Töne an, wie man sie in Deutschland seit Jahrzehnten – auch von 1933 bis 1945 – gehört hat, Töne, die der Hybris nahe kommen. Oder man spricht genau die von Vorurteilen bestimmte Mentalität an, auf deren Boden erst die abstrusen Ideen des Nationalsozialismus üppig wuchern konnten, die dann als Rechtfertigung für Mord, Krieg, Raub und Erniedrigung dienten. Obwohl Bischof Scharf in Stuttgart das Wort von der politischen Kirche geprägt hat, möchte ich es mir versagen, an dieser Stelle durch Zitate aus der letzten Zeit diesen Rückfall zu belegen – auch, um nicht als Berliner Bundestagskandidat den Vorwurf auf mich zu ziehen, ich trüge den Wahlkampf in eine solche Veranstaltung.

Wir müssen aber erkennen: Die Jahre unserer Geschichte von 1933 bis 1945 waren kein zufälliger Ausrutscher auf dem Parkett der Weltgeschichte, über den man in etablierten Kreisen nicht weiter zu sprechen braucht. Wer trägt schon einem Manne, der die Tugenden der Biederkeit, des Anstandes, des Fleißes, der Sauberkeit und der Gründlichkeit so vordergründig zu tragen weiß, nach, wenn er einmal aus der Rolle fällt, und dann noch so gekonnt aus der Rolle fällt wie wir, denn ganz schön bange haben wir die anderen wenigstens gemacht.

Nein. So werden wir dem deutschen Widerstand nicht gerecht. Er ist kein Make-up, mit dem man bei Bedarf hässliche Flecken unserer Geschichte übertüncht, sondern eine Mahnung, die Ursachen dieser hässlichen Flecken zu ergründen, den Erreger zu bekämpfen und so die Krankheit zu heilen.

Geschichte wiederholt sich nicht, indem sie vorangegangene Perioden sorgfältig kopiert. So wird es auch keinen Faschismus der besonderen hitlerschen Prägung mehr geben, auch wenn sich noch so viele Adolfe anbieten. Sie sind nicht die größte Gefahr. Die liegt woanders.

Dem Menschen ist es dank seiner rationalen Kräfte gelungen, immer perfektere technische und organisatorische Systeme zu entwickeln. Eins dieser Systeme wird es in wenigen Stunden einem Menschen ermöglichen, seinen Fuß außerhalb dieser Erde auf einen Boden zu setzen, der Jahrtausende unerreichbar schien und nur den Träumen zugänglich war. Durch diese technischen und organisatorischen Systeme sind wir in der Lage, bisher ungeahnte Möglichkeiten zur menschlichen Selbstverwirklichung zu schaffen.

Wir können mit ihrer Hilfe Hunger, Not, Unwissenheit bannen und damit die Quellen des Völkerhasses und des Unfriedens verstopfen. Sie versetzen uns allerdings auch in die Lage, die Manipulation, die Unterdrückung, die Unfreiheit und die Vernichtung so perfekt zu betreiben, dass es kein Entrinnen mehr gibt. Diese Gefahr ist umso größer, je weniger sich die Menschen dazu bereit finden, ihre Rationalität auch auf die Strukturen unserer Gesellschaften, unseres Zusammenlebens anzuwenden, je mehr sie fortfahren, diese perfekten Systeme mit den Vorstellungen und Denkkategorien von gestern handhaben zu wollen.

Wir haben erlebt, welche Versuchung von diesen perfekten technischen organisatorischen Systemen ausgeht, um absolute Ideologien absolut durchzusetzen. Wir haben erlebt, wie das zur absoluten Unfreiheit und zum absoluten Verbrechen führen kann. Wir haben die Gnade der Scham und der Einsicht erhalten. Die Scham ist wohl abhanden gekommen; das beweisen die Schmierereien, die in der letzten Nacht an der Gedenkstätte Plötzensee angebracht worden sind. Nutzen wir anderen wenigstens die Gnade der Einsicht, indem wir bekennen: Widerstand heute ist nicht mehr ein einmaliger Akt aus tiefster Gewissensnot heraus, sondern eine der permanent alternativen Verhaltensweisen gegenüber den drohenden Gefahren, wie sie sich aus der Kombination von technischer Perfektion mit den Kräften des Ungeistes der Hybria, der Selbstgefälligkeit und Gedankenlosigkeit ergeben. Widerstand heute ist das zähe, beharrliche und pragmatische Ringen um die zweckmäßigsten Normen, unter denen Menschen zu leben haben. Das System dieser Normen darf nicht mehr pervertieren zum ideologisch begründeten Unrechtsstaat; Widerstand darf nicht mehr zum einmaligen Opfer Einzelner werden.

Dieses Vermächtnis des Widerstandes ist noch nicht voll erfüllt. Ich schlage vor, den deutschen Widerstand mit seinen Lehren und seinen Erkenntnissen als „Schule der Nation“ zu betrachten, wenn wir schon so etwas benötigen. 25 Jahre sind vergangen. Lassen wir nicht weitere 25 Jahre in der jetzigen Haltung folgen. Dann haben wir nicht nur das Vermächtnis verspielt, sondern auch unsere Chance für die Zukunft.






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