Verantwortung für morgen

Julius Döpfner

Verantwortung für morgen

Predigt des Erzbischofs von München und Freising Dr. Julius Kardinal Döpfner am 20. Juli 1969 in der Kirche Maria Regina Martyrum, Berlin

Predigttext: Römer 8, 12-17.

Wenn wir heute auf 25 Jahre seit jenem 20. Juli des Jahres 1944 zurückschauen, dann ist nach dem Brauch, der nun einmal unter Menschen ist, gerade die diesjährige Gedenkfeier von einer besonderen inneren Bedeutsamkeit. Es ist eine Zahl, die nun einmal bei uns Menschen besonders beachtet wird. So gedenken wir der Opfer des 20. Juli und aller Opfer des Widerstandes in den Jahren zwischen 1933 und 1945 in einer tiefen Ehrfurcht. Sie waren keine Verräter, sondern Männer – und wir dürfen auch sagen Frauen – ihre Frauen und andere tapfere Frauen, denen es darum ging, dass in Deutschland Würde und Recht des Menschen gilt.

Wir gedenken ihrer in großer Dankbarkeit. Erfolg oder Misserfolg ist kein Maßstab unserer Erinnerung. Und wenn auch das, was sie damals planten, jahrelang sich überlegten, misslang, so wissen wir doch, dass in jener dunklen Zeit unseres Vaterlandes dabei in ihnen ein besseres Deutschland aufleuchtete, als Hoffnung für die Zukunft. Und ich meine, wir sollten dabei nicht nur jener gedenken, die ihr Leben gelassen haben, sondern so vieler namenloser Mitbürger unseres Vaterlandes, die in jenen Jahren ihr Bestes taten.

Wir gedenken dieser Opfer auch in einer echten persönlichen Beschämung. Jeder, der jene Zeit durchlebte, wird da und dort von sich sagen müssen, dass er nicht genug widerstanden hat. Und jene, die später geboren sind, jene, die heute leben, müssen auch von sich so sagen gegenüber knechtenden Mächten, die auch in unserer Zeit sich finden.

Und nun: Diese Besinnung bei der heiligen Opferfeier wird aus der Mitte des Wortes Gottes kommen müssen. Wir lassen uns sozusagen anrufen von dem Gebet, das wir vorhin gesprochen haben: „Gib uns in Deiner Güte allezeit den Geist, das Rechte zu denken und zu vollbringen.“ Und das Maß dafür ist uns das Wort Gottes, und so darf ich einmal anknüpfen an die an sich im Lesen nicht so leicht klingende Epistel aus dem Römerbrief. Dort wird uns für unsere menschliche Existenz, für unsere christliche Berufung doch sehr Wesentliches gesagt.

Wir treffen da auf mehrere Gegensatzpaare. Da ist die Rede vom Geist und vom Fleisch. Es werden also gleichsam zwei Gruppen von Menschen gesehen, Menschen des Fleisches, Menschen des Geistes. Nun wissen wir, wenn der heilige Paulus von Fleisch spricht, dann meint er nicht unseren Körper. Er meint auch nicht jene Sünden, die nun bezeichnend sind gerade für den Leib, für den Missbrauch des Leibes und seiner Kräfte, sondern er meint den Menschen, der der Sünde verfallen ist, den gottfernen, der unerlösten Welt zugewandten Menschen.

Nach der Offenbarung gibt es nicht einfachhin den natürlichen, auch den natürlich guten Menschen. Und wenn wir heute in der theologischen Deutung manche Schwierigkeiten haben im Verständnis der Erbsünde, aber meine Lieben, wir sollten die Wahrheit, die dahinter steht, nicht übersehen. Eine Gewaltherrschaft, wie sie damals unser Volk erlebte, war ein besonders grauenvoller Ausdruck dieser Sündenverfallenheit, von der die Menschheit und von der die Menschen bedroht sind. Dies ist eine ganz ernste Gefahr, dass die Macht der Sünde, diese geradezu personifizierte Macht der Sünde in unseren Tagen oft genug übersehen wird.

Die Menschen des Geistes sind jene, die unter Gott stehen. Wenn Paulus vom Geist spricht, dann meint er das Wesen Gottes, das sich zu den Menschen hin öffnet. Mit der Trinität ist ja der Heilige Geist gerade der, der die Sendung Gottes im Sohn in die Menschheit hinein weiterführt. Und wenn darum in der Schrift so oft von der Herrschaft, vom Reich Gottes die Rede ist, dann ist das diesem Ausdruck vom Geist ganz nahe. Das sind jene Menschen, die sich glaubend unter Gottes Anruf, unter Gottes Ordnung und Gottes Gesetz stellen.

Ich meine, wir sollten das hier doch gleich festhalten: Gewiss war der Widerstand in jenen Jahren keine eigentlich religiöse Bewegung. Aber die Dokumente zeigen uns – und das Leben vieler dieser Männer –, dass unter jenen ausgesprochen gläubige Menschen in einer großen Zahl waren, und zwar Menschen, die diese ihre damalige Verantwortung aus ihrem Glauben heraus sahen.

Nehmen wir ein anderes Gegensatzpaar, das daraus folgt: Knechtschaft – Freiheit. Der heilige Paulus weist uns darauf hin, dass eine Unterordnung, ein Knechtsein in einem irgendwie gemeinten Sinn für jeden Menschen wesentlich ist. Entweder sind wir Knecht des Fleisches oder Knechte des Geistes oder, wie es im 6. Kapitel des Römerbriefes heißt, Knechte der Gerechtigkeit. Aber – aus dem einen folgt Unfreiheit, folgt Knechtschaft, zwar nicht im politischen Sinn, sondern im ethischen, im heilsgeschichtlichen Sinn. Eine Knechtschaft, aus der Tod folgt, die ewige Verstoßung und Entfernung von Gott.

Aus dem Dienst am Geiste, im Geist und an der Gerechtigkeit folgt innere Freiheit, folgt die Kindschaft Gottes. Freilich, meine Lieben, diese Dienstbarkeit gegenüber Gott darf nicht eine äußere, eine aufgezwungene sein, in der wir etwa Gott als jenen übermächtigen Buchhalter sehen, der uns entweder gut auszahlt oder uns aber eine Strafe zudiktiert, je nachdem, sondern es muss ein innerer Dienst sein, der aus einer gläubigen Liebe herauskommt, der die Antwort gibt auf jenen Gott, der sich uns in Christus offenbart. Dann wollen wir aber beachten, dass hier der Apostel nicht einfach die Menschheit sozusagen säuberlich in zwei Gruppen scheidet, die Menschen des Geistes und die Menschen des Fleisches, sondern er sieht diese Auseinandersetzungen mitten im Menschen. Ein jeder von uns ist berufen zu diesem Dienst im Geiste und hat innerlich zu ringen gegen jene Knechtschaft im Fleische. Und es ist auch im Rückblick auf jene Männer wichtig, dass wir sie in ihren Grenzen sehen, dass wir sehen, wie sie als Menschen, auch als solche, die immer in der Gefahr waren, hier der Macht des Bösen und der Sünde zu verfallen, ihren Weg vor Gott redlich zu gehen suchten.

Und wenn wir nun noch eines dazunehmen, da heißt es am Schluss, dass wir im Geiste sprechen: „Abba – Vater“. Wir sollten hier noch ein Gegensatzpaar aufnehmen, das sich nicht ausschließt wie das andere, sondern sich innerlich ergänzt und ausgleicht, nämlich dies: Dieses gläubige Rufen zum Vater und dazu das Wirken hinein in die Welt. Seht, es gibt doch eine doppelte Gefahr für uns Christen. Die eine ist die, dass wir eine ichbezogene, von der Verantwortung für diese Welt und für die Menschen entrückte Frömmigkeit haben, in der wir rufen „Abba – Vater“, in der wir sozusagen uns unserer ewigen Erwählung in Christus freuen. Es gibt die andere Gefahr, und ich glaube, dass sie heute besonders groß ist. Dass wir sagen, dazu sind wir überhaupt nicht fähig, dass wir uns Gott persönlich, wie einem „Du“ nahen – worin ja der ganze Sinn der Menschwerdung Jesu Christi bestand –, sondern wir finden Gott nur im Mitmenschen, wir finden Gott nur im Dienst an den Menschen. Meine Lieben, seien wir uns im Klaren darüber und sehen wir das gerade im Blick auf die gläubige Einstellung gerade führender Männer des Widerstandes: Wenn wir uns von diesem „Abba – Vater“ lösen, dann ist die Kraft des Dienstes für die Menschen und für das Volk aus dem christlichen Glauben bald aufgebraucht. Wenn wir meinetwegen heute lesen die ergreifenden Briefe und Ausarbeitungen von Pater Delp oder auch von Dietrich Bonhoeffer aus ihren letzten Monaten, dann spüren wir, wie diese Männer aus ihrer inneren Gläubigkeit sich geradezu gedrängt fühlten, falls der Herr ihnen das Leben ließe, sich für dieses Volk in einer Zeit des Umbruchs, die sie ja damals an der Schwelle des Todes geradezu seherisch ahnten, einzusetzen. Und wenn es darum in unserem Gebet heißt, dass wir – secundum deum vivere – Gottes Willen gemäß leben, dann wollen wir nicht das andere übersehen, was dort in diesem Gebet auch gesagt wird: Ohne dich können wir nicht bestehen – sine te esse non possimus.

Ich meine, wir sollten bei dieser Gedächtnisfeier am Altar des Herrn ganz bewusst aus einem innigen Glauben heraus „Abba – Vater“ sagen. Du, unser Vater, du hast uns durch deinen Sohn und den Opfertod deines Sohnes jene Freiheit geschenkt und jene Sendung gegeben, die wir dann in dieser Liebe, die Christus uns zeigte, weitergeben sollen.

Nun fügen wir noch einen zweiten Gedanken hinzu, der das Gedachte noch ein wenig konkretisiert, ohne dass wir dabei – es ist ja ein geistliches Wort – in politische Einzelheiten gehen. Knüpfen wir das an Worte, die in jener Zeit eine besondere Bedeutsamkeit, einen besonderen Klang hatten.

Das erste Wort ist das Wort Freiheit. Es war damals eine Zeit der Unfreiheit, der äußeren, der politischen Unfreiheit. Wir leben in einer Zeit, die eine andere Gesellschaftsform, eine andere politische Form hat. Eine Zeit, in der zum Grundgesetz dieses Staates und dieser Gesellschaft der Wert der Freiheit und der Würde des Menschen gehört. Und doch wissen wir, dass sich heute gerade in der ganzen Verflechtung, in die die Menschheit durch die weitere technische Entwicklung hineingerät, durch all die Möglichkeiten, wie sie aus den Massenkommunikationsmitteln kommen, in all der Möglichkeit, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Machtanballung mit sich bringt, wissen wir, dass wir auch hier von vielen Formen der Unfreiheit bedroht sind. Und denen werden wir antworten aus dem Geist jener Männer, aber in einer inneren Freiheit, die aus der Freiheit des Geistes kommt; die darum jener Freiheit misstraut, von der der Apostel sagt, dass sie ein „Anlass für das Fleisch“ sein könnte, nämlich zur Willkür. Wir erleben heute Formen der Freiheit, die Anarchie sind. Wir erleben einen Missbrauch der Freiheit, der die grundlegenden und tragenden sittlichen Ordnungen einer gewiss pluralen Gesellschaft verantwortungslos zersetzt.

Meine Lieben, auch wir müssen uns heute, im Gedächtnis an jene Männer, einer inneren Freiheit verpflichtet wissen, die den Segen und die Fruchtbarkeit der politischen Freiheit, die wir wenigstens in diesem Teil Deutschlands haben, sichert und für die Zukunft erhält. Das ist ein wesentlicher Teil des Vermächtnisses, das jene Opfer des Widerstandes hinterlassen haben.

Ein anderes Wort, das damals seine Bedeutung hatte, es wurde schon oft genannt und wird in diesen Tagen ständig genannt, das Wort Widerstand. Die Wege der Einzelnen in jenen Jahren waren ganz verschieden. Es mochte sein, dass manch einer 1933 nach den Erfahrungen der Weimarer Jahre meinte, es müsse nun, so wie man damals sagte, so etwas geben wie eine nationale Erhebung. Andere spürten gleich den verheerenden, folgenschweren Anfang dieses Jahres. Und viele, die Besten unter ihnen, haben im Lauf der Jahre immer stärker erkannt, dass hier ein System der Unfreiheit in einem immer furchtbareren Ausmaße sich entwickelte, und daraus wuchsen die verschiedenen Formen der Gedanken und vielen Möglichkeiten, der Gedanke des Widerstandes.

Nun, meine Lieben, auch dieses Wort hat für uns heute seine Bedeutung und seine Gültigkeit. Aber setzen wir es als Christen auch wirklich in der Mitte an, nämlich bei jenem Widerstand, von dem Paulus im 12. Kapitel des Römerbriefes spricht, dass wir uns nicht dieser Welt angleichen. Dass wir uns an den Werken des Fleisches, jenen vielfältigen Knechtungen im privaten und auch öffentlichen Leben innerlich widersetzen. Wir brauchen heute eine Form, eine Weise des Nonkonformismus, die oft genug gerade jenen sinnlosen Widerstand, jener destruktiven Kritik sich entgegensetzt, die wir heute oft genug erleben.

Wir leben noch heute in einer Zeit, wo die Gefahr besteht, dass das kostbare Gut, das uns nach 1945 geschenkt wurde, verwirtschaftet wird durch verantwortungslosen Widerstand. Und hier sollten wir, aus dem Gedenken jener Männer heraus, zu jenem tiefen, wahrhaft christlichen, verantwortungsbewussten Widerstand finden, den unsere Zeit braucht. Gehen wir noch einen Schritt weiter. Gewaltsame Revolution, ein Widerstand, der zur Gewalt griff, zur Beseitigung des Mannes, den viele damals, gerade jene führenden Männer des Widerstandes, als das eigentliche Verhängnis Deutschlands erkannten. Und nun, meine Lieben, ist es im Hinblick auf jene Zeit geradezu ergreifend, mit welchem Ernst um die Frage gerungen wurde, ob die alten moral-theologischen Auffassungen über den Tyrannenmord in jener Zeit zu verwirklichen waren. Und wenn wir heute zurückschauen auf jene Männer, die sich dann zu einem gewaltsamen Widerstand, zu einem Umsturz innerlich entschlossen, dann werden wir erinnert, wie unsere Zeit gerade über diese Fragen so sehr nachdenkt, geradezu von einer Theologie der Revolution spricht, und wir spüren, welche Bedeutsamkeit die Erinnerung für unsere Tage hat.

Aber ich meine, wer das verantwortungsbewusste Ringen jener Zeit vergleicht mit manchem, was wir heute erleben, der wird gestehen müssen, dass der ganze Ernst, die ganze Komplexität dieser Frage in unseren Tagen oft nicht genug gesehen, dass darüber oft in einem verantwortungslosen Leichtsinn gesprochen wird. Wir müssen uns dem stellen, wir müssen aber auch wissen, dass auch hier wieder für uns die gedeihliche Revolution in der Mitte unserer Herzen beginnt, wo wir uns immer wieder neu darauf umstellen, dass wir Gottes Willen in seiner Schöpfung, in der Gesellschaft der von ihm gesandten und geschaffenen Menschen zu verwirklichen suchen. Und hier werden wir dann auch zu dem Letzten kommen, was ich noch sagen möchte und was in jener Zeit ein wichtiger Anruf für diese Männer war, das Engagement für das Volk, Staat und Gesellschaft.

Es war eben so, dass diese Männer nicht nur an sich dachten, sie dachten an ihr Volk, sie dachten an ganz Europa, sie dachten an das Furchtbare, was von unserem Vaterland für die ganze Menschheit ausging. Und es wird für uns heute eine Aufgabe sein, dass wir aus dem Glauben heraus, wie ich vorhin schon sagte, eben nicht nur „Abba – Vater“ rufen, sondern uns von diesem Vater hineingesandt wissen in die gegenwärtige Zeit. Wir erleben heute gerade in der jungen Generation, auch der Kirche, eine erschütternde Glaubensunsicherheit. Und dabei oft ein so gut gemeintes, geradezu glühendes Engagement für die Fragen der Zeit.

Meine Lieben, es ist für uns alle, die wir glauben dürfen und glauben können, eine unerhört große Aufgabe, dass wir unsere Gläubigkeit so glaubwürdig darstellen, auf dass sichtbar werde, wie aus dem Glauben an den Vater in seinem Sohn Jesus Christus ein verantwortungsbewusster Einsatz folgt für diese Welt und für diese Zeit und für die Menschen, unter denen wir leben.

Und so lasst uns denn, meine lieben Brüder und Schwestern, diese Gedächtnisfeier des Todes, des Opfertodes unseres Herrn feiern, liebend verbunden mit der Regina Martyrium, der Königin der Märtyrer. Und wir wollen uns in der Gemeinschaft der Heiligen verbunden wissen mit allen denen, die damals starben, verbunden wissen mit den Angehörigen, die noch leben, mit unserem ganzen Volk und allen Menschen, auf dass aus dem Opfer unseres Herrn, in dem viele Männer des Widerstandes ihren Auftrag und ihren Tod sahen, für uns alle Gnade und Kraft geschenkt werde.

Wollen wir nachher besonders darauf achten, wenn es im Gabengebet heißt, dass Gott uns die Gnade gebe, dass dieses erhabene Opfer Jesu Christi uns heilige, uns innerlich mit Kraft und Gnade erfülle und unser gegenwärtiges Leben, in dieser Stunde unseres Volkes, in dieser schweren, entscheidungsreichen Zeit, in die der Herr uns hineingestellt hat.

Amen.

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