Predigt

Bringfried Naumann

Predigt von Pfarrer Bringfried Naumann am 20. Juli 1982 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Sehr verehrte Freunde,

liebe Schwestern und Brüder in Christus,

erneut sind wir hier versammelt an diesem Ort. Bilder der Vergangenheit ängstigen uns. Was vor einer Generation geschah: es lässt uns nicht los. Immer wieder die kläglichen Versuche unter uns, zu verstehen und zu deuten, und immer wieder scheitern wir. Die Zeugen jener Zeit werden alt und gehen einer nach dem anderen. Ist es ihnen gelungen, die Last der Erinnerung abzulegen? Und wir Jüngeren: sind wir offen genug, Schuld und Leid von gestern aufzuheben und zu verwandeln in unserem Leben heute, dabei uns selbst verwandeln zu lassen? Der Streit um Gerechtigkeit und Frieden bindet alle Kräfte, lässt Grauenvolles ahnen schon für die kommende Generation.

Wenn wir uns heute erinnern lassen an das, was da war an Hybris und Vernichtung, und an das, was um uns und durch uns und mit uns geschehen könnte bis zur Auslöschung jeglichen Lebens, wiederum durch den Übermut und die Angst verkümmerter Seelen, dann wollen wir das nicht tun als gottlose Leute. Sondern in unserem Innern, – im Wesen unserer Existenz, in Verstand und Gemüt und Herz möchte uns erreichen, was über Bitten und Verstehen immer noch hörbar ist: Gottes Wort. Können wir hören und wahrnehmen, was der Prophet Jesaja dem Volk Israel in Verbannung und Exil gesagt hat?

„So spricht der Herr, der dich geschaffen hat: Fürchte dich nicht; denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ (Jesaja 43,1)

Mancher unter uns wird dieses Gotteswort wiedererkennen: es ist nach der Ordnung unserer Kirche der Spruch für diese Woche. Und es ist ein Wort dreifacher Erinnerung an das, was Gott im Leben der Menschen getan hat, angefangen bei Israel in der Babylonischen Gefangenschaft bis hin zur Ökumene, bis hierher, wo wir in seinem Namen Gemeinschaft haben im evangelischen und katholischen Horizont.

Gegen unsere Aporien und Utopien steht dieses Erinnern Gottes. Ob uns dieses eindringliche Mahnen und Werben erreicht? Die Last unserer Erinnerung, die uns bedrückende Ahnung kommenden Unheils, beides, sollen uns genommen werden. Ob unser dressierter Verstand darauf eingeht? Ob unser versteinertes Herz dem sich öffnet? Ob unser verzagtes Gemüt davon frei wird? Ob der – mit Martin Luther und Ernst Bloch – in sich verkrümmte Mensch, ein jeder von uns, nun aufrecht dahergeht?

An unsere Geschöpflichkeit werden wir erinnert.

Gott sagt : Ich habe dich geschaffen. Mit all den Gaben und Begabungen, mit all den unendlichen Möglichkeiten des Leibes und der Seele, aber auch mit den damit verbundenen Grenzen bist du, Mensch, nicht von dir selbst. Mit Vater und Mutter, mit Mann oder Frau, mit Kindern und Anvertrauten, mit Freundschaft und Beruf, mit Tag und Nacht, mit Hitze und Kälte, mit Tieren und Pflanzen, mit Wasser und Erde, mit dem Gestein und dem Gestirn, mit viel Zeit und Raum bist du, Menschenkind, mein Ebenbild. Was haben wir daraus gemacht in unserer Gottvergessenheit und Ich-Sucht? Es ist Zeit aufzuwachen!

Und wir werden erinnert an unsere Erlösung.

Gott sagt: Ich habe dich erlöst. Die dunkle „Freiheit“, die angesichts der Wahrheit und Liebe nur Sklaverei, Unterdrückung, Vergewaltigung heißt, diese Versuchung mitten unter uns, in jeder Generation noch sein zu wollen wie Gott, wie er der Schöpfer selbst gerade darin, dass wir nicht nach ihm fragen, dies Dunkel ist uns abgenommen durch Christi Werk. Im Glauben an ihn, den Sohn Gottes, können wir unterscheiden, was Knechtschaft und Herrschaft sind. Denn die Freiheit der Kinder Gottes fangen die zu buchstabieren an und stehen dafür ein, die den Namen Jesus gelten lassen. „Gott hilft“ – „Jesus“.

Gottes Hilfe vor unseren Augen. Jesus wird zum Christus, zum Heiland, zum Menschenbruder. Was wir nicht schaffen, hat er erreicht. Was wir verschulden, hat er gesühnt. Was wir ersehnen, hat er verwirklicht. Am Kreuz hat die Zukunft der Kinder Gottes begonnen. Was wirkt in unserem Leben? Dankbarkeit? Nächstenliebe und Feindesliebe? Es ist Zeit, sich dessen zu vergewissern.

Und wir werden erinnert an unseren Namen.

Gott sagt: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Eigenartig, wie uns diese Zusage am ehesten trifft, zugleich aber auch befremdet. Dass Israel zuerst gemeint ist und dann die Kirche Jesu Christi – beide auch immer wieder verstrickt in neue Babylonische Gefangenschaft – hindert uns nicht, es ganz persönlich zu hören. Ein jeder von uns ist gemeint, so müde und erschöpft, so traurig und verbittert, so voller Unruhe und Angst: Gott spricht mit uns, nennt uns bei Namen. Und auch dort, wo wir getauft wurden und hineinwuchsen in das Leben voller Glauben und Zweifel: unser Name. Unverwechselbar angesprochen, angenommen, geehrt: wir selbst. Und ich begreife, dass ich mit anderen verbunden bin, weil Gott auch sie berufen hat und ich meinen Gott nicht für mich behalten darf im Gefängnis meines Irrtums. Gott, der einen jeden bei seinem Namen ruft auf vielfältige Weise, er führt das Getrennte zusammen, er schenkt seinen Geist zum Gebet und zum verantwortlichen Handeln. Wer sich von ihm beim Namen gerufen weiß, für den sind Gottesdienst und Weltverantwortung miteinander verbunden. Wer nimmt das wahr? In der Hetze und Atemlosigkeit des Geistes Gegenwart zu erbitten, ja, geistesgegenwärtig zu leben? Es ist Zeit, die Menschen und Dinge wieder beim Namen zu nehmen.

So erinnert, liebe Schwestern und Brüder, werden uns Lasten abgenommen. Die Furcht hat nicht mehr so schreckliche Fratzen, weil das Wort Gottes Furcht austreibt. Und unsere Vereinsamung und Verlorenheit werden aufgehoben durch Gemeinschaft am Tisch des Herrn und die Vergebung unserer Sünde. So erinnert haben wir Hoffnung, durch Gottes Handeln begründete Hoffnung.

„So spricht der Herr, der dich geschaffen hat: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.“

Amen.







Weitere Reden

20.07.1982
P. Dr. Karl Meyer OP
P. Dr. Karl Meyer OP