Wir haben diesen Tag einzuordnen in die deutsche Geschichte.

Emil Henk

Wir haben diesen Tag einzuordnen in die deutsche Geschichte.

Gedenkrede des Kuratoriumsvorsitzenden der Stiftung „Hilfswerk 20. Juli 1944“, Emil Henk, am 19. Juli 1961 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Das deutsche Volk kennt in seiner Geschichte tiefe, tragische und verzweifelte Zusammenbrüche, die es an den Rand des Daseins brachten. Aber keiner dieser Zusammenbrüche war so weitreichend wie der von 1945 und in keinem stand das deutsche Volk so tief in seiner Existenz verlassen wie damals vor 15 oder 16 Jahren.

Alles, was lange als wahr, als richtig und auch als deutsch und lebenswert gegolten hatte, war plötzlich ohne Wert und alles, was lange als verrufen und verbrecherisch galt, wie der Widerstand und der 20. Juli 1944, das tauchte plötzlich im Chaos der Zeit als neue geschichtliche Kraft auf. In der Tiefe seiner Niederlage verlor das deutsche Volk sein lebendiges Verhältnis zu seiner Geschichte und es war zunächst außerstande, den geistigen Ort seiner vergangenen Taten und Leistungen wieder zu bestimmen. Dabei leben wir seit 1945 in der Auseinandersetzung zwischen Vergangenheit und den moralischen und politischen Werten des Widerstandes, eines Widerstandes, den das Volk kaum kannte und von dessen inneren Werten es kaum eine Vorstellung hatte.

Viele Jahre geschah am 20. Juli so gut wie nichts, er war vielen unbequem und unbegreiflich und es bestand die Gefahr, dass dieser Tag ein Stück „unbewältigter Vergangenheit“ wird. Was man nicht kennt und als lebendige Kraft nicht in die Gegenwart eingreift, bleibt geschichtlich tot.

Da gab es eine entscheidende Wendung. Sie wissen: Im Jahre 1954 hat die Stadt Berlin in einer gemeinsamen Feier mit dem Hilfswerk in der heutigen Stauffenbergstraße das Denkmal für die Opfer des 20. Juli enthüllt. Zum ersten Mal hat sich damals ein Bundesland, Berlin, öffentlich zu dieser ungeheuren Tat bekannt. Der Bundestag und Bonn folgten. Seitdem hat sich der unbekannte 20. Juli langsam erhellt und seitdem hat sich der Staat offen zu ihm bekannt.

Wir haben lange fast nur die Tat gesehen, die groß war, auch wenn sie scheiterte, wir haben dann schrittweise die inneren und menschlichen Werte erschlossen, die das Attentat trugen und es erst ermöglichten: die Ethik, die Moral, der Staatswille, der Geist und das Christentum. Eine Vielheit der Werte haben das Attentat ermöglicht.

In diese Auseinandersetzung von gestern und heute gehören auch unsere Gedenkfeiern, das, was heute und morgen hier in Berlin und in ganz Deutschland geschieht und diese Feiern sind zweifellos ein sehr wichtiges Stück in der Auseinandersetzung mit der sogenannten unbewältigten Vergangenheit. Wir gedenken der Toten, ihrer menschlichen Größe, ihrem tragischen Schicksal in Höhen und Tiefen des Lebens. Wir gedenken ihrer Tat, die an der totalen Diktatur scheiterte, aber wir vollziehen darüber hinaus auch einen Akt der Geschichte, wenn wir den 20. Juli herausheben als das, was er ist: nicht nur ein Attentat, sondern auch ein „Aufstand des Gewissens”. Wir haben diesen Tag einzuordnen in die deutsche Geschichte. Nur so können wir das Nachleben der Toten in der Geschichte sichern.

Sie sehen: Schriften, Darstellungen der Presse und Gedenkfeiern, gerade diese hier in Berlin, haben das geschichtliche Bild des 20. Juli so korrigiert und geklärt, dass aus dem militärischen Attentat ein seinem Wesen nach geistiger Aufstand wurde – die Wurzeln wurden bloßgelegt und das geschichtliche Bild verschob sich vom Militärischen ins Moralische. Das Militärische war vor dem Ungeheuer an Macht das Unvermeidliche, das Moralische war die Ursache. Seit der ersten Feier im Jahre 1954 ist viel geschehen. In vielen Städten finden alljährlich Gedenkfeiern statt. Sie erfolgen fast alle spontan aus der geschichtlichen Entwicklung. Im vergangenen Jahr haben so ziemlich alle Zeitungen über die Gedenkfeiern berichtet, selbst in entlegenen Orten, und man kann sagen: Der 20. Juli ist mehr und mehr in das Bewusstsein des Volkes gedrungen.

Dabei fällt auf, dass die Jugend positiv Stellung nimmt, sie hat Aussprache-Abende und wir wissen, dass im vergangenen Jahr bei der Gedenkfeier in der Universität München über 1000 Studenten teilnahmen.

Das Attentat ist heute kein eratischer Block einer unbewältigten Vergangenheit – es steht mitten in der Auseinandersetzung im Volk, in der Intelligenzschicht und vor allem vom Politischen her zweifelt niemand mehr, dass der 20. Juli einer der wenigen wichtigen Aktivposten des deutschen Volkes geworden ist. Wir sind es den Toten schuldig, dass wir sie nicht vergessen.

Wir sind es ihnen schuldig, dass ihre Tat bleibt, aufgehellt und erforscht. Wir sind es ihnen schuldig, dass der 20. Juli im wahren Sinne des Wortes in die Geschichte eingeht, wie alle Großtaten unseres Volkes und unserer Großen, bewältigt, erkannt, ein geschichtlicher Bestandteil unseres Wesens, jedem bekannt, von jedem begriffen.






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