Wir selbst wollen nicht vergessen

Willy Brandt
Wir selbst wollen nicht vergessen
Gedenkrede des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Willy Brandt am 19. Juli 1959 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin



Wir gedenken heute, am Vorabend des 20. Juli, der Männer, die vor fünfzehn Jahren entschlossen verbunden waren, jene braune Schmach abzuschütteln, die 1933 über uns gekommen war. Wir gedenken zugleich aller Männer und Frauen des deutschen Widerstandes, all der Opfer, all der Kämpfer im Ringen um ein wieder auf Recht begründetes Deutschland.


Es war nie leicht, an dieser Stätte zu sprechen. Heute ist es deswegen besonders schwer, weil man gern etwas sagen möchte, was nicht in den hinter uns liegenden Jahren schon mehr als einmal gesagt worden ist. Aber vielleicht kommt es gar nicht so sehr auf die rhetorische Neufassung dessen an, was uns hier alle miteinander bewegt; vielleicht kommt es gerade darauf an, noch einmal einiges von dem zu sagen, was immer wieder gesagt werden muss.


Wir stehen in einem schweren Heute. Wir können es nur bestehen, wenn wir die Lehren von gestern und vorgestern in uns aufgenommen, wenn wir sie in uns verarbeitet, sie uns so recht zu eigen gemacht haben. Wir müssen uns bewusst bleiben, dass die braune Diktatur nicht nur das traurige Erbe eines zerstörten und geteilten Deutschlands hinterließ, sondern dass sie grausamen Verrat an Europa übte und vielfaches Leid brachte über die Völker Europas. Alles, was gelitten und geopfert wurde, was gerade im europäischen Osten immer noch und für eine uns unbekannte Zukunft geopfert und gelitten werden muss, verschmilzt sich mit dem Opfer jener, deren wir heute gedenken.


In der vor uns liegenden Zeit, in der es nicht nur darum geht, sinnvoll wieder zusammenzufügen, was sinnlos auseinandergerissen wurde, sondern in der es vor allem sich auch darum handelt, an den neuen, uns gemäßen Formen des gemeinschaftlichen, des staatlichen und zwischenstaatlichen Lebens zu arbeiten, in dieser Zeit werden wir – gedanklich und moralisch – noch viel zu schöpfen haben aus jenem Abschnitt des Kampfes um Freiheit und Recht, der in den Jahren von 1933 bis 1945 in Deutschland durchlebt und durchlitten wurde. Die Geschichte dieses Freiheitskampfes, die erst nur bruchstückweise niedergeschrieben werden konnte und vielleicht nie völlig erfasst werden wird, hat uns noch unendlich viel zu sagen, zu vermitteln, mit auf den Weg zu geben.


Hinter uns liegen fünfzehn Jahre eines vielfach verwirrenden Weltgeschehens. Niemand wird behaupten wollen, er habe das so vorausgesehen. Nicht nur die Gruppierung der Mächte, sondern das Weltbild selbst hat sich gewandelt. Nicht nur die Technik hat sich in atemberaubendem Tempo weiterentwickelt, es haben sich sprunghafte Entwicklungen vollzogen, und zwar nicht allein, wo es sich um die Mittel der Massenzerstörung handelt. In Deutschland ist jener Teil, den wir die Bundesrepublik nennen, rascher wieder aufgebaut und durch mehr materielle Güter angereichert worden, als wir es vor fünfzehn oder zwölf Jahren auch nur zu träumen wagten. Selbst hier, im freien Teil von Berlin, sahen wir, wie allen Schwierigkeiten und Widerständen zum Trotz eine Trümmerwüste umgewandelt worden ist in einen Ort emsigen wirtschaftlichen und geistigen Schaffens. In diesem unseren Volk schlummerten und schlummern Energien, sonst hätten wir die große Katastrophe nicht überleben können.


Aber damit können, damit dürfen wir uns – so möchte ich meinen – nicht zufrieden geben. Deutschland ist als Staat und als Volk geteilt, Europa ist gespalten. Die Welt ist von gefahrvollen Spannungen erfüllt. Das Missverhältnis zwischen technisch-materiellem Fortschritt und seiner geistig-moralischen Bewältigung tritt immer offener zu Tage. Da dies die Lage ist, fühlen wir uns über das ehrfürchtige Gedenken hinaus hingezogen zu denen, suchen wir Rat bei jenen, die ihre Antwort zu geben hatten und zu geben wussten auf die Grundentscheidungen zwischen Macht und Recht, zwischen frecher Anmaßung und schlichter Gesittung.


Nun können wir selbstverständlich die Frage aufwerfen, was alles anders gekommen wäre, wenn unser Volk die politische Reife gehabt, wenn seine legitime Führung über die Entschlossenheit verfügt hätte, dem Spuk schon 1932/33 ein Ende zu bereiten. Wenn jedenfalls noch am 20. Juli 1944 die Umkehr gelungen und das Ungeziefer beseitigt worden wäre! Es kann kaum einen Zweifel daran geben, dass die Einheit Deutschlands auch 1944 noch zu retten war. Es braucht auch nicht bezweifelt zu werden, dass die Wiederbesinnung der Nation auf ihre eigentlichen Aufgaben und Werte sehr viel rascher erfolgt wäre.


Es ist Mode geworden, vom Versagen und von den Fehlern der anderen zu sprechen, und das entspricht wohl einer nur allzu menschlichen Schwäche. So hören wir denn, wie alles ganz anders gekommen wäre, wenn man Weimar jene außenpolitischen Erfolge gegönnt hätte, die die Braunen mühelos einstecken durften... wenn dem Besessenen von der Außenwelt rechtzeitig Paroli geboten worden wäre... wenn die Emissäre des deutschen Widerstandes mehr Verständnis gefunden hätten... wenn die Siegermächte über mehr Einsicht und Weitblick verfügt haben würden! Zu jeder dieser Fragen und zu manchem mehr lässt sich eine Menge bemerken. Aber es geht in diesen Zusammenhängen nun einmal darum, nicht irgendetwas zu sagen – vor allem nicht, den anderen mit dem Zeigefinger zu begegnen und ihnen vorzuhalten, sie sollten nun endlich vergessen.


So geht es nicht, so wollen wir es nicht und so können wir es nicht wollen. Wir selbst wollen nicht vergessen. Wir wollen uns doch nicht ärmer machen, als wir sind! Das bedeutet ganz gewiss nicht, schematische Trennungslinien in unserem Volke aufrechtzuerhalten, die nie ganz gestimmt haben, und die jedenfalls heute nicht mehr stimmen. Das bedeutet auch nicht, irgendeinem Pharisäertum das Wort zu reden. Nein, wir möchten, wir dürfen und wir wollen ganz einfach nicht auf jene Werte verzichten, die uns der Widerstand hinterließ. Und wir möchten den Fragenden in Europa, in der Welt, weiterhin in die Augen schauen können, wenn wir ihnen sagen, dass wir nicht vergessen wollen, damit sie leichter vergeben können.


Welches sind denn nun die Werte, die vom 20. Juli und aus der Zeit des Widerstandes gegen die braune Gewaltherrschaft zu uns herüberragen? Ich fürchte, dass ich manchem derer, die sich an dieser geweihten Stätte versammelt haben, hierzu weniger zu sagen habe, als er erwartet, weniger auch als er weiß. Aber ich wage es, uns alle noch einmal daran zu erinnern, dass es vor allem anderen ein Aufstand des Gewissens war, der uns im Widerstand begegnete und der am 20. Juli kulminierte.


Vaterlandsliebe im besten Sinne des Wortes ist es, heiße Liebe zum Volke ist es, der wir begegneten, und die uns vermittelt wurde. Ein Bewusstsein höherer Pflicht und höchster Verantwortung ist es, dem man mit Formalismus und bloßer Staatsräson nicht nahe kommen, geschweige denn gerecht werden kann. Hier ging es um Recht und Freiheit, um Achtung vor dem Menschen und Streben nach menschlicher Gerechtigkeit. Hier ging es um sittliches Denken und um jene Ehre, die in sich selbst ruht und nicht nach Stand oder Kleidung unterteilt werden kann. Hier ging es um Treue – unabhängig vom Erfolg oder Misserfolg – über die Folterkammern hinweg bis zum letzten Gang. Lassen Sie mich hier einmal jenen britischen Staatsmann zitieren, der die Männer rühmte, die ohne Hilfe von innen und von außen kämpften, einzig getrieben von der Unruhe ihres Gewissens, und von denen er sagte, die durch sie geformte Opposition gehöre „zu dem Edelsten und Größten, das die politische Geschichte aller Völker je hervorgebracht hat“.


Aber es bedeutete eine unerlaubte Vereinfachung, eine der Sache nicht gerecht werdende Einengung, wollten wir uns an diesem Gedenktag nicht auch erneut der politischen Erkenntnisse erinnern, die – bei aller Unterschiedlichkeit der Beteiligten – aus dem deutschen Widerstand erwachsen waren; wollten wir nicht jenen Gestaltungswillen für Volk und Menschheit in uns aufnehmen, für den die Männer und Frauen des 20. Juli – dieses Datum umfassend verstanden – Freiheit und Leben hingegeben haben.


Wir sind zusammengekommen, uns vor ihnen zu verneigen. Nicht wir ehren sie, sondern sie ehren uns, da sie dem wahren Deutschland zum Ruhme gereichen. Ihr Tod hat bis auf den heutigen Tag und noch lange darüber hinaus eine allen Einsichtigen erkennbare schreckliche Lücke gerissen. Und dennoch ist es auch wahr, dass sie uns Überlebenden geholfen haben. Ihr Opfer hat dem Volk das Weiterleben leichter gemacht, denn sie zeugten für das andere Deutschland. Uns bleiben die Opfer Mahnung und Verpflichtung. Ihr Vermächtnis ist noch nicht erfüllt. Wir können uns nur bemühen, ihren Ideen und Idealen nachzuleben. Wir können nicht nur, wir wollen auch bestrebt sein, ihrem Vorbild durch unsere Arbeit, durch unsere Haltung nachzueifern.


Es ist ein nationalpolitisches Ereignis, dass der höchste Offizier der Bundeswehr, General Heusinger, in seinem Tagesbefehl zum diesjährigen 20. Juli von der „Tat gegen das Unrecht und gegen die Unfreiheit“ spricht und davon, dass diese Tat gewesen sei „ein Lichtpunkt in der dunkelsten Zeit Deutschlands“. General Speidel hat mir mit herzlichen Grüßen aus Fontainebleau telegrafiert, dass er in Gedanken mit uns allen an diesem Tage treu verbunden ist. Die Bundesregierung, der Senat von Berlin, die Volksvertretungen, die großen Verbände, die hier vertreten sind – wir alle finden uns in Ehrfurcht und in gutem Willen. Die Zeit mag mehr von uns fordern; sie mag fordern, wir sollten uns auch im täglichen Tun noch mehr daran erinnern, was uns verbindet und was uns gemeinsam aufgetragen ist.


Ausländische Beobachter irren, wenn sie zuweilen meinen, der Braunauer treibe noch immer sein unheilvolles Spiel. So ist es nicht, aber manche Missverständnisse außerhalb unserer Grenzen sind verständlich, wenn man sich die Versäumnisse vor Augen hält, die beispielsweise an manchen deutschen Gerichten und an manchen deutschen Schulen zu verzeichnen gewesen sind, oder wenn man sich klar macht, wie ein beträchtlicher Teil unseres Volkes in den Tag hineinlebt – zwischen Gestern und Morgen, ohne Gestern und Morgen. Ist es ein Wunder, dass von draußen zweifelnde, sorgenvolle, zuweilen auch ungerechte Fragen an unser Ohr dringen?


Die Staatsmacht in dem uns hier in Berlin umgebenden, widernatürlich von uns abgespalteten Teil Deutschlands scheint alles darauf anzulegen, das eigentliche Erbe des Widerstandes zu schmähen. Man möchte dort viel weniger noch als anderswo gemessen werden an Maßstäben, denen man nicht gewachsen ist, und man möchte vor allem nichts hören vom Aufstand des Gewissens. Dieser Tage schrieb eine sowjetzonale Zeitschrift über das außenpolitische Programm dessen, was man dort die „militaristische Verschwörung vom 20. Juli 1944“ zu nennen beliebt: es erscheint in hasserfüllter Verzerrung.


Nun ist solche Verzerrung und Verfälschung nicht gar so unverständlich, wie sie aus bloß historischer Sicht erscheinen mag. Denn hier und jetzt geht es natürlich darum, dass die neue Diktatur vollbringen möchte, was der alten nicht gelang. Aber es wird ihr nicht gelingen. Die ewigen Werte, das beweist uns der beste Teil der jungen Generation auch im Osten, sind in die Herzen der Menschen verankert, dass die Gedanken des Rechts, der Freiheit und der Menschenwürde jedes Gewaltregime überleben.


Jenes Vaterland, für das unsere großen Toten ihr Leben hingaben, war kein staatliches Provisorium, sondern das unteilbare Deutschland. Jene Ideale, die sie miteinander verbanden, bezogen sich nicht nur auf einen Teil der Welt. Wenn wir ihnen nacheifern wollen, erwarten uns gewaltige Aufgaben: im Ringen um ein freiheitlich wiedervereinigtes Deutschland – in der Arbeit für eine dem friedlichen Aufbau zugewandte Welt – im immerwährenden Kampf um Ehre, Recht und Freiheit.

Weitere Reden

19.07.1959
Dr. Reinhard Goerdeler