Der Widerstand mahnt: Seid wachsam!

Hartmut Röseler

Der Widerstand mahnt: Seid wachsam!

Ansprache des Vorstandsmitglieds des Rings Politischer Jugend, Hartmut Röseler, am 19. Juli 1966 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Deutsches Geschick scheint es zu sein, auf misslungene Revolutionen zurückblicken zu müssen, denn ihre letzten Ziele haben weder der Aufstand des Gewissens am 20. Juli 1944 noch der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 erreicht. Dennoch haben uns beide Opfergänge deutscher Männer und Frauen ein Erbe hinterlassen, das es zu bewahren gilt. Sie starben in letztem Einsatz für Freiheit und Demokratie, Menschenwürde und Gerechtigkeit, sie starben für uns alle.

Wenn wir heute hier in Plötzensee an der Stätte zusammengekommen sind, an der mehr als 1.800 Menschen aus politischen Gründen von den Nazis ermordet wurden, so kommt der diesjährigen Gedenkfeier eine besondere Bedeutung zu. Wir alle sind zur Wachsamkeit aufgerufen und zum Nachdenken ermahnt, nachdem gerade in jüngster Vergangenheit bestürzende Meldungen bekannt wurden.

In der Bundesrepublik hatte man sich geradezu daran gewöhnt, dass alljährlich eine Reihe jüdischer Friedhöfe geschändet wird und dass Hakenkreuzschmierereien beweisen, dass der Ungeist von gestern noch nicht überwunden ist. Zu leicht haben wir uns damit getröstet, dass die Urheber eine hoffnungslose Minderheit repräsentieren, deren geistiger Horizont sich zu dem noch als eng begrenzt erwiesen hat. Die Entwicklung der jüngsten Zeit lehrt uns, dass wir darüber nicht mit einem Achselzucken zur Tagesordnung übergehen dürfen.

Der fortschreitende Zerfall des politisch organisierten Rechtsradikalismus wurde durch die Zusammenfassung der Ewiggestrigen in der NPD aufgehalten, vielleicht sogar zu einem Tendenzumschwung gebracht. Aktionen wie der Anschlag auf das Haus der jüdischen Gemeinde in Berlin beweisen einmal mehr, dass sich die nationalistischen Kräfte – wie schon in Weimar – nicht nur auf die Stimmzettel verlassen, sondern neben Demagogie und Hetztiraden gegen die staatstragenden demokratischen Parteien im Terror noch immer ihre größeren Chancen sehen.

Die Meldung, dass die NPD unter der Studentenschaft der Universität Gießen und an anderen Universitäten einen starken Anhang hat, ist erst wenige Tage alt. Sie wurde jetzt dementiert. Wer aber von uns hat zuvor diese Meldung nicht für bare Münze genommen und ihre Richtigkeit angezweifelt? Ein wahrlich bestürzendes Zeichen. Sind wir schon wieder soweit gekommen, dass wir geduckt auf den nächsten Schlag aus rechtsradikaler Richtung warten? Wenn bekannt geworden ist, dass nicht einmal die Hälfte der Jugendlichen über den Widerstand informiert ist, besteht Veranlassung zu echter Sorge. Die eingehende Unterrichtung über den Widerstand gegen eine geistige Haltung, die zu Größenwahn und Rassismus, Verbrechen, Krieg und Untergang führte, ist die beste Garantie für ein Scheitern der nationalistischen Kräfte in Deutschland.

Umso bedeutsamer will es scheinen, dass auch 1966 wieder hier an dieser Stelle eine vom Senat und den politischen Jugendverbänden Berlins getragene gemeinsame Gedenkfeier stattfindet, um die Frauen und Männer des deutschen und außerdeutschen Widerstandes zu ehren. Es muss als ermutigendes Zeichen gewertet werden, dass gerade im Bewusstsein der Jugend der deutschen Hauptstadt die Widerstandskämpfer gegen die nazistische Tyrannei ihren Platz als Vorbilder für ein verantwortungsbewusstes, vom sittlichen Ethos getragenes Handeln einnehmen. Die Jugend Berlins hat im Frühjahr dieses Jahres dem organisierten Rechtsradikalismus ihren erbitterten Widerstand angekündigt und ich wiederhole hier stellvertretend für die Jugend, dass sie jedem Anzeichen einer neuerlichen braunen Pestilenz mit allen Mitteln entgegentreten wird. Wir haben den Auftrag der Widerstandskämpfer verstanden und wissen um unsere hohe Verpflichtung, bereits den Anfängen neuen nationalistischen Irrsinns und heraufziehenden Unrechts zu wehren.

Die Geschichte hat gezeigt, wie schnell ein Volk ins Verderben geführt werden kann und wie leicht es andere Völker mit ins Unglück zieht. Der Opfermut der Märtyrer des 20. Juli und die schier unüberwindbaren Schwierigkeiten, die sie zu überwinden hatten, legen Zeugnis dafür ab, wie schwer es ist, Verbrechern in den Arm zu fallen, wenn sie ihre Herrschaft erst perfektioniert haben und sogar die Justiz zum willfährigen Sklaven menschlichen (oder muss ich sagen unmenschlichen) Größenwahns herabgesunken ist. Vom Fackelzug des 30. Januar 1933 bis hin zum Völkermord und der deutschen Kapitulation führte ein unerbittlich-konsequenter Weg. Des Führers Wille war Gesetz, Kritik kam einem Verbrechen gleich.

Aus unserer heutigen gesicherten Position eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats heraus lässt sich leicht eine Pflicht zum Widerstand gegen Terror und Unmenschlichkeit postulieren. Der Blutzoll des Widerstandes ist grausig Mahnung, wie sehr sich anfängliche Versäumnisse rächen. Am 20. Juli wurde mit Freiheit und Leben dafür gezahlt, dass der Demontage des Rechtsstaats in Weimar und zu Beginn der Hitlerschen Regierung zu wenig entschiedener Widerstand entgegengesetzt wurde.

Als der Terror erst in den Perfektionismus eines Willkürregimes eingemündet war, wurde jede Form offenen oder geheimen Widerstandes zu einer großen Gefahr für Leib und Leben selbst der Angehörigen. Die rechtliche Verpflichtung zum Widerstand hatte längst aufgehört zu bestehen. Was blieb, war eine immerwährende moralische Aufforderung dazu, die jeder vor seinem Gewissen zu prüfen hatte. Viele sind ihr nachgekommen, aber nicht jeder, der nach eigenen Worten seinen Platz hielt, um Schlimmeres zu verhüten, ist ein Widerstandskämpfer.

Das Gewissen allzu vieler war angesichts der permanenten Verhöhnung von Menschlichkeit und Menschenwürde stumpf geworden, viele andere litten unter dem überall sichtbaren Unrecht in gleichem Maße wie unter der Erkenntnis eigener Ohnmacht und fehlenden Mutes, dem verbrecherischen Treiben der Nazis entgegentreten zu können. Welch vorbildhafte seelische Größe und Tapferkeit offenbart sich in den Männern und Frauen, die ihre Opposition durch Taten bewiesen, die Verfolgten halfen, die Flugblätter verteilten, die unter Einsatz des eigenen Lebens als Märtyrer ihren Weg gingen, um dem Verbrecherregime Hitlers ein Ende zu setzen.

Welche hohen Anforderungen der Widerstand an die Menschen stellte, prägt sich besonders in den mannigfachen Schwierigkeiten aus, die er zu überwinden hatte, ehe sich am 20. Juli 1944 die besten Kräfte aus unserem Volk, von verschiedenster Herkunft, aus allen sozialen und politischen Schichten und von unterschiedlicher Konfession, zur gemeinsamen Aktion zusammenfanden. Die deutsche Opposition gegen Hitler war gewiss keine Massenbewegung, sie war aber auch alles andere als eine Sache weniger Frondeure, geschweige denn einer gewissenlosen Clique. Viele leisteten in den verschiedensten Formen Widerstand, die Terrorurteile der Nazis haben das tausendfach bewiesen. Angesichts der großen Risiken in dem nazistischen Polizeistaat war eine Einmütigkeit des Handelns aller Widerstandsgruppen schwer erreichbar. Als der Tag kam, an dem sich alle darüber klar wurden, dass Gewalt die einzige Lösung war, Deutschland vor der größten Katastrophe seiner Geschichte zu bewahren, fiel dem Heer eine Schlüsselrolle geradezu zwangsläufig zu. Denn in der Schlussphase der Nazizeit konnte nur Gewalt die Herrschaft der schrankenlosen Gewalt brechen. Hinter dieser Erkenntnis türmten sich aber große Schwierigkeiten auf.

So mancher Heerführer beruhigte sein Gewissen mit dem Hinweis auf die unpolitische Tradition des Heeres. Viele sahen eine Aktion während des Krieges als nachteilig an und wollten erst später mit Hitler abrechnen. Die Unterstützung der Bevölkerung war zweifelhaft, handelte es sich doch nicht etwa, wie in Frankreich, um eine Widerstandsbewegung gegen fremde Unterdrücker, die der nationalen Sympathie gewiss sein konnte, sondern um ein Regime, das von einem großen Teil des Volkes gewollt und unterstützt worden war. Konnte nicht ein Staatsstreich mitten im Krieg als Landesverrat missdeutet werden und einer neuen Dolchstoßlegende Vorschub leisten? Es ist bestürzend, wenn in unserem Lande manch einer die Meinung vertritt, die aus einer tiefen sittlichen Fundamentierung heraus unter Gewissensqualen geborenen Aktionen der Widerstandskämpfer seien „Verrat“ gewesen. Schließlich fehle Deutschland eine Überlieferung in revolutionärem Handeln, in freien Gewissenentscheidungen des Einzelnen gegen die herrschende Obrigkeit.

Haupterschwernis des militärischen Widerstandes gegen Hitler aber war die feste Bindung der deutschen Soldaten an den auf Hitler persönlich abgelegten Eid und die unbedingte Gehorsamsverpflichtung. Besonders bei den Mannschaften und jüngeren Offizieren war die Bindung kaum überwindbar. Nur wenige rangen sich zu der Erkenntnis durch, dass ein Treue-Eid auf Gegenseitigkeit beruht und nur solange gilt, wie sich auch der Eidnehmer an die Treuepflicht hält. Einem „Führer“ gegenüber aber, der den aussichtslosen Kampf bis zur Vernichtung Deutschlands fortführen wollte, dem der Gedanke, um Deutschlands Fortbestehen willen abzutreten, fremd war und der seinen persönlichen Untergang mit dem Deutschlands verwob, gibt es keine Eidespflichten. Bereits 1938 hatte Ludwig Beck die Grenzen des soldatischen Gehorsams dort gezogen, wo ihm Wissen, Gewissen und Verantwortung die Ausführung eines Befehls verboten. Als einziger Ausweg, um die Wehrmacht in aller Form von dem Eid auf Hitler zu entbinden, blieb das Attentat.

Im Gegensatz zu der italienischen Opposition erhielt der deutsche Widerstand von den Alliierten keine Chance, eine Tatsache, die erhebliche Folgen hatte. Nunmehr waren nur noch die Kräfte zu einem Staatsstreich bereit, die nicht nach Erfolg, sondern vor allem nach Recht und Gewissen fragten und nicht abwägten nach Gefahr und Erfolgsaussichten.

Nach dem 20. Juli war es für Deutschland nicht mehr möglich, sich aus seinen Fesseln zu befreien, erst ein dreiviertel Jahr danach wurde es von den Alliierten befreit. Unsagbar viel Leid wäre Deutschland erspart geblieben, wenn die Männer des 20. Juli Erfolg gehabt hätten. In Deutschland kamen nach dem 20. Juli 1944 mehr Menschen ums Leben als in den vier Kriegsjahren zuvor. Schon darin findet der Aufstand des Gewissens seine Rechtfertigung. Wenn auch der Krieg bereits verloren war und somit der 20. Juli für eine materielle Rettung Deutschlands zu spät kam, so war doch vor aller Welt sichtbar der Beweis erbracht, dass es innerhalb Deutschlands Kräfte gab, die unter Einsatz des eigenen Lebens für Freiheit, Recht und Menschenwürde kämpften. Deutsche, die aus eigenem Entschluss gegen eine Obrigkeit zu Felde zogen, das war eine neue Erfahrung für viele im Ausland.

Was im Leben und letztlich auch im Leben der Völker, der Geschichte zählt, sind nicht Augenblickserfolge, sondern das, was Bestand hat, der tiefere Sinn des menschlichen Handelns. Tragende Pfeiler des Widerstandes waren Wille und Mut, Opferbereitschaft und Solidarität, Wagnis und Leidensfähigkeit, erstrebte Ziele waren der Frieden, die Menschlichkeit und die Gerechtigkeit – Werte, für die das Leben einzusetzen sich lohnt. In einem totalen Staat hat ein Widerstand gegen Willkür und Unrecht wenig Möglichkeiten, zum Erfolg zu kommen. Diese Erkenntnis bleibt als eines der Vermächtnisse des Widerstandes: Daraus folgt die Pflicht, wachsam zu sein und den Anfängen einer neuerlichen Entwicklung zu Diktatur und Unrecht zu wehren.






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