Der 20. Juli 1944 – Das erste Fanal

Ernst Reuter
Der 20. Juli 1944 – Das erste Fanal
Gedenkrede des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Ernst Reuter am 19. Juli 1953 bei der Einweihung des Denkmals für die Opfer des 20. Juli 1944 im Ehrenhof des Bendlerblocks in der Bendlerstraße, Berlin



Neun Jahre sind vergangen seit dem Tage, zu dessen Gedenken wir heute dieses Denkmal an der traurigen, historischen Stätte unseres Volkes enthüllen. Ein Denkmal, dessen Grundstein wir hier in einem symbolischen Akte im vergangenen Jahr gelegt haben. Ein Denkmal, an dem wir uns in den kommenden Jahren an jedem 20. Juli zusammenfinden werden, um die Erinnerung an die Vergangenheit in uns lebendig werden zu lassen und um aus der Erinnerung an die Vergangenheit Kraft für unser Wirken, für unser Leben, für unser Handeln, für uns selber und für die Zukunft unseres Volkes zu gewinnen.


Neun Jahre sind in der Geschichte eines Volkes eine kleine Spanne. Für uns, die wir sie durchleben mussten, sind sie eine unendliche Zeit. Was haben wir in diesen neun Jahren alles erlebt! Wie sehr lastet auf uns das Gefühl, dass wir unsere Wanderung noch nicht zu Ende gegangen sind! Und wie sind wir doch davon überzeugt, dass wir in unserer Zeit noch viel Schweres, aber auch viel Großes werden erleben müssen, bis wir das Werk vollendet haben, für das die Männer, deren Gedenken wir heute feierlich begehen wollen, gefallen sind.


Die Geschichte eines Volkes wandelt sich immerdar. Immer wieder müssen wir versuchen, sie neu zu begreifen. Wir müssen versuchen, den Bogen von der Gegenwart zu dem, was wir selber erlebt, zu dem, was wir selber getan, zu dem, was wir auch manchmal unterlassen haben, und zu dem, was aus der großen Vergangenheit unseres Volkes zu uns herüberreicht, zu spannen. Stets werden neue Generationen aus neuen Erlebnissen heraus ein neues Bild der Geschichte ihres Volkes und ein neues Bild auch der Ereignisse gewinnen, die wir an diesem Tag in die Erinnerung der Deutschen zurückrufen wollen.


Wenn wir heute hier beisammen sind, so gilt unser erstes Wort den Hinterbliebenen, die zu uns gekommen sind. Wir alle haben das einfache menschliche, unpathetische Bedürfnis, ihnen die Hand zu reichen in tiefem Verständnis und in tiefem Mitgefühl für die Trauer, die ihr Herz erfüllen muss, für die Trauer im Gedenken an die tapferen Männer, die sie verloren haben und die nicht mehr bei ihnen sein können. Wir alle in Deutschland, wo immer wir auch stehen und wo immer wir auch leben mögen, haben Menschen verloren, die uns nahe waren, die für unser Leben und für unser Herz etwas bedeuteten. Aber die Toten, deren Vermächtnis wir heute in die Erinnerung zurückrufen wollen, – sie waren tapfere, aufrechte Männer, die in der Geschichte unseres Volkes immer etwas bedeuten werden.


Der 20. Juli 1944 war das erste sichtbare, weithin wirkende Fanal, das der Welt zeigte, dass in Deutschland der Wille zur Freiheit und der Wille zum eigenen Leben nicht untergegangen war. In der Finsternis, die unser Volk umhüllte und die unser Volk mit Verderben und mit Untergang bedrohte, fanden sich Männer, die wussten, dass in einer solchen Stunde das Leben des Einzelnen nichts gelten darf, wenn die Pflicht ruft, jene Pflicht, die im Herzen eines jeden Deutschen verankert sein und die uns stets mahnen sollte, alles zu tun, alles zu wagen – und sei es das eigene Leben, um das Volk zu retten, wenn es vom Untergang bedroht ist.


In der Geschichte unseres Volkes müssen wir lange zurückgehen, ehe wir auf solche Männer und auf solche Taten stoßen. Die Frauen und Männer des 20. Juli waren Menschen – und das ist das besonders Große an diesem Tage und an diesen schrecklichen Monaten, die ihm gefolgt sind –, die sich aus allen Lagern unseres Volkes zusammenfanden, die das Bewusstsein und die das Verständnis dafür hatten, dass nur Menschen aus allen Lagern im gemeinsamen Zusammenwirken und im gemeinsamen Handeln in der furchtbaren Not des Vaterlandes einen neuen Weg in eine bessere Zukunft finden können. Wenn ihr Werk von Erfolg gekrönt worden wäre, würde unser Leben auch heute noch voll Not und voller Schwierigkeiten sein. Auch heute noch würden wir der gewaltigen Aufgabe gegenüberstehen, die wir noch nicht gelöst haben; aber unser Weg würde leichter sein. Viele Trümmer und Ruinen wären uns erspart geblieben; und das Leben von Millionen Deutschen, die wir heute so sehr vermissen und so sehr entbehren – es wäre erhalten geblieben.


Diese Männer des 20. Juli hatten in all der Unzulänglichkeit ihres Handelns, die sich nicht aus ihrer Schuld, sondern aus der historischen Lage unseres Volkes ergab, das tiefe Verständnis dafür, dass sie mehr zu tun hatten als nur einen Gewaltstreich herbeizuführen, dass sie ein neues Deutschland auf neuen Fundamenten würden errichten müssen. Sie waren sich dessen bewusst, dass dieser Weg lang und diese Arbeit schwer sein würden. Aber sie waren sich auch klar darüber, dass sie in dem Zusammenleben aller schaffenden, schöpferischen Kräfte unseres Landes und unseres großen Volkes stark genug sein würden, diese Aufgaben zu lösen.


Mit tiefem Respekt verneigen wir, die Überlebenden, die das Glück haben, den Weg in die neue Zukunft bereiten zu können und die durch eine geschichtliche Entwicklung, vielleicht kann ich sagen: auch dazu verurteilt sind, die Last dieser Aufgabe auf ihren Schultern zu tragen – mit tiefem Respekt verneigen wir uns vor den Angehörigen, die wir hier begrüßen, mit dem Respekt, den wir ihnen schulden als den Angehörigen und Hinterbliebenen von Männern, deren Namen in die stolze Geschichte unseres Vaterlandes eingehen werden.


Möge es ihnen in dieser Stunde – aber nicht nur in dieser Stunde, sondern immerdar – ein Trost sein, dass hier in Berlin, in der Hauptstadt unseres Vaterlandes, dem Herzen unseres Volkes, das Bewusstsein lebendig ist dafür, dass diese Männer einen großen, unvergänglichen Beitrag geleistet haben.


Aber darf ich vielleicht als ein Mann, der nun schon langsam der älteren Generation angehört, ein Wort an die Jugend richten, an die Töchter und Söhne der Gefallenen des 20. Juli, die heute bei uns sind. Sie sind die Träger stolzer Namen, weil diese Namen verbunden sind mit einer heroischen, tapferen, echten vaterländischen Tat. Sie können in ihrem ganzen Leben auf ihre Väter mit Stolz zurückblicken und an sie denken. Aber sie übernehmen auch als Träger dieser Namen mit uns allen zusammen die Verpflichtung, diesen Namen Ehre anzutun. Und die einzige Ehre, die wir Deutschen diesen Männern antun können, ist die: uns zu bemühen, mit aller Kraft das Werk zu vollenden, das unvollendet heute noch vor uns liegt.


Es ist vielleicht ein Zufall, vielleicht auch kein Zufall, dass um uns herum die Flüchtlinge aus der Sowjetzone auf uns herunterschauen und mit uns an dieser Feierstunde teilnehmen.


Diesen Menschen – Frauen, Männern und Kindern – zu helfen, ist unsere allererste Pflicht, an die wir auch an diesem Tage denken müssen. Aber mehr als die Pflicht der Hilfe brennt in unseren Herzen, dass wir sie befreien, dass wir sie in ihre Heimat heimbringen und dass wir unser Vaterland in Einheit und Freiheit zusammenführen müssen.


Der Bogen vom 20. Juli 1944 spannt sich heute, ob wir wollen oder nicht, zu dem großen Tage des 17. Juni 1953, zu jenem Tag, an dem sich ein gepeinigtes und gemartertes Volk in Aufruhr gegen seine Unterdrücker und gegen seine Bedränger erhob und der Welt den festen Willen zeigte, dass wir Deutschen frei sein und als ein freies Volk unser Haupt zum Himmel erheben wollen. Wir wissen, dass dieser 17. Juni wie einst der 20. Juli nur ein Anfang war. Aber ich glaube, es ist gut, es ist richtig, wenn wir auch an diesem Tage den Bogen vom 20. Juli zu den Ereignissen schlagen, die uns heute innerlich bewegen.


Das Verbindende dieser Ereignisse ist der feste Wille, nicht unterzugehen als Volk, ist der feste Wille, frei zu werden, so wie Gott uns geschaffen hat, ist der feste Wille, unser Volk über alle Nöte und Hindernisse hinweg zu dem Tag zu führen, an dem über unseren Häuptern die schwarz-rot-goldene Fahne der Freiheit wehen wird und an dem wir einmal werden sagen können: Wir haben vollendet, was diese Männer uns aufgetragen haben; wir haben geschaffen, was zu schaffen die Geschichte uns verpflichtet hat. Wir haben ein freies Leben und ein freies Volk geschaffen, und wir haben damit den Tag herbeigeführt, an dem der Weg zu einem echten Frieden frei geworden ist. Denn auch diesen Männern des 20. Juli lag der echte Friede zwischen Deutschland und all den Völkern, die uns umgeben, unseren Nachbarländern, am Herzen; sie wollten, dass der Wahnsinn zu Ende gehen und dass die schaurige Vorstellung, wir Deutschen seien von der Geschichte dazu bestimmt, über andere herzufallen, abgelöst werden muss von der klaren Erkenntnis, dass es unsere Aufgabe als Deutsche ist, mit den Völkern in Frieden zusammenzuleben und eine Erde zu schaffen, auf der Menschen in Frieden und Freiheit wirklich leben und ihres Lebens froh sein können.


In dieser für uns alle bewegenden und feierlichen Stunde wollen wir geloben, dass der Geist des 20. Juli niemals untergehen und dass er in uns, die wir heute leben und die Aufgabe von den Toten übernommen haben, Träger finden möge, die – wie sie – entschlossen sind, alles einzusetzen: Gut, Existenz und Leben, bis wir geschafft haben, was wir schaffen müssen. Dann möge einmal künftigen Generationen diese Stätte ein nationales Heiligtum werden, ein Heiligtum, in dem jeder Deutsche begreift, dass aus Blut und Tränen, dass aus Not und Elend etwas Neues hervorging, das stärker ist als alle Gewalt: die Kraft freier Herzen, die aus dem eigenen unerschütterlichen Willen die Tyrannei besiegt, die Tore der Knechtschaft sprengt und das Gebäude zum Einfallen bringt, das wir fern von uns, manchem – irrtümlich, wie ich glaube – als unerschütterlich uns gegenübersehen.


Dieser Tag und diese Stunde werden kommen, dessen sind wir alle gewiss. Dieser Tag und diese Stunde werden kommen, weil wir Deutschen es mit der ganzen Leidenschaft unseres Herzens wollen, und weil ein Volk, das nicht aufhört, für seine Freiheit zu kämpfen und zu wirken, zu rufen und zu schaffen, niemals allein gelassen werden wird, denn es findet die Hilfe der Welt, die Hilfe Gottes, ohne die wir dieses Werk nicht beenden können.


Wenn ich nun dieses Denkmal in meiner Eigenschaft als Regierender Bürgermeister des Landes und der Stadt Berlin enthülle, übergebe ich es damit auch symbolisch dem Andenken der Hinterbliebenen. Möge der Anblick dieses Denkmals und möge die Tatsache, dass wir hier in Berlin schaffen und wirken, damit der Tag unserer Freiheit endlich kommt, ihnen unsere Verbundenheit zeigen. Möge es allen ein Trost, eine Hilfe in der Zukunft sein. Möge es aber auch anspornen, gemeinsam zu wirken – bis wir unser Ziel erreicht haben! Wir werden diese Stätte in unsere pflegliche Obhut nehmen. Einmal wird hier in Berlin ganz Deutschland versammelt sein, und das ganze Deutschland wird diese Stätte als nationales Heiligtum von uns übernehmen.


 

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