Ein Mahnmal für künftige Generationen

Friedrich Georgi
Ein Mahnmal für künftige Generationen
Ansprache des Sprechers des Arbeitskreises 20. Juli 1944, Dr. Friedrich Georgi, am 19. Juli 1953 im Ehrenhof des Bendlerblocks in der Bendlerstraße, Berlin



Wenn ich der Aufforderung Folge leiste, am heutigen Tag an dieser Stelle als ehemaliger Offizier besonders der Offiziere zu gedenken, die diesen Umsturz geplant, vorbereitet und versucht haben, so tue ich das nur mit einem gewissen Widerstreben; denn ich möchte keinesfalls, dass dieser Kreis der Offiziere gegenüber den anderen Mitwirkenden in irgendeiner Form in den Vordergrund gerückt wird. Das würde auch dem Wesen und dem Willen dieser Männer in jeder Beziehung widersprechen. Sahen doch gerade sie in der Ausbreitung der Opposition gegen den Nationalsozialismus über alle Berufsstände, Konfessionen und parteipolitische Bindungen hinweg eine der wesentlichsten Voraussetzungen für ihre Berechtigung zu handeln.


Das einigende Motiv all dieser Männer war die Auflehnung des sittlich gebundenen, verantwortungsbewussten Menschen gegen das Böse schlechthin, das sich im Nationalsozialismus verkörperte. Dass Offiziere des Heeres die eigentlichen Träger des Umsturzversuches wurden, ergab sich ganz zwangsläufig aus der damaligen Situation, in der allein die Wehrmacht als Machtfaktor im Staate noch in der Lage war, dieses System gewaltsam zu beseitigen. Es sollte weder eine Militärdiktatur, abgesehen von einer kurzen Anfangszeit, errichtet werden, noch wollte irgendeiner der beteiligten Offiziere Machtbedürfnisse befriedigen. Sinn und Zweck des militärischen Umsturzversuches war einzig und allein die Beseitigung des nationalsozialistischen Systems durch den Einsatz der der Wehrmacht zur Verfügung stehenden Machtmittel, um den Weg für eine vom deutschen Volk frei gewählte Regierung zu bereiten.


Dass sich die beteiligten Offiziere in Zusammenarbeit mit allen anderen Oppositionsgruppen während der ganzen Zeit der Vorbereitungen Gedanken über die Reformen gemacht haben, die im Anschluss an den Umsturz hätten durchgeführt werden müssen, ergab sich zwangsläufig aus der ständigen Beschäftigung und der intensiven geistigen Durcharbeitung der Materie. Keiner der beteiligten Offiziere war der Typ eines Revolutionärs. Ihre in Charakter, Lebensauffassung und Tradition begründete Gegnerschaft zum Nationalsozialismus war die natürliche Voraussetzung für ihr Handeln. Dass aber die Wehrmacht politisch eingreifen und dieses System beseitigen musste, ergab sich erst, als das nationalsozialistische System sich fest in den Besitz der Macht gebracht hatte und alle anderen politischen Kräfte nicht mehr über die notwendigen Machtmittel verfügten, um dieses System zu stürzen. Damit musste die Wehrmacht auch die Verantwortung für diese Tat vor dem Volk und der Geschichte übernehmen.


So kam es zur Planung, Vorbereitung und Durchführung einer Tat, die in der Geschichte der deutschen Armee ohne Beispiel ist. Die tiefe Sorge um Deutschland als Kulturstaat hatte schon seit 1933 Männer aus allen Kreisen des deutschen Volkes zusammengeführt mit dem Ziel, nach Mitteln und Wegen zu suchen, um Wandel zu schaffen. Das Verantwortungsbewusstsein führender Generale und die Leidenschaft jüngerer Offiziere verband sich in dem Willen, die Fesseln eines traditionsgebundenen Gehorsams zu sprengen, um den Missbrauch soldatischer Tugenden durch ein skrupelloses System zu beenden. Das Bewusstsein, Verbündete in allen Teilen des Volkes zu haben, die auf diese Tat warteten und danach selbst zum Handeln bereit waren, erleichterte den Männern den Entschluss. So handelten sie in der Überzeugung von der Allgemeingültigkeit des von ihnen empfundenen moralischen Gesetzes und von der absoluten Notwendigkeit ihrer Tat für die Selbstachtung und Selbstbehauptung des deutschen Volkes und für sein Ansehen in der Welt.


Es war charakteristisch für die handelnden Offiziere, dass sie fast ausnahmslos Träger hoher und höchster Tapferkeitsauszeichnungen waren. Es war aber genauso charakteristisch für sie, dass sie in militärischen Schlüsselpositionen Einblick in die wahren Möglichkeiten und Geschehnisse des Krieges hatten. Der Mittelpunkt der militärischen Aufstandsbewegung befand sich hier in der Bendlerstraße, dem Heeresamt des Oberkommandos der Wehrmacht. Von hier aus liefen die Querverbindungen der Wehrmacht zu allen zivilen Oppositionsgruppen.


Durch welch schwere Gewissenskonflikte hindurch diese Männer den Entschluss zum Handeln fassen mussten, kann man mit Worten nicht genügend verdeutlichen. Das Opfer des eigenen Lebens ist für sie nicht der schwerste Entschluss gewesen. Das war für sie eine so selbstverständliche Verpflichtung in Anbetracht des Opfers von Millionen, die an den Fronten standen, dass sie sich ohne besondere Schwierigkeiten darüber hinwegsetzen konnten. Mein Schwiegervater, General Olbricht, der als Chef des Allgemeinen Heeresamtes Sinn und Verpflichtung seines Lebens in der Vorbereitung und Durchführung dieses Aufstandsversuches gesehen hat, sagte mir einmal: „Es sterben so viele tapfere Soldaten an allen Fronten letztlich umsonst. Da müssen auch wir hier bereit sein, für Deutschland zu sterben, um es zu befreien.“ Und es ist wiederum so charakteristisch für diese Männer, dass sie bewusst auch nicht den geringsten Versuch gemacht haben, für den Fall eines Misslingens eine Flucht vorzubereiten. Leider ist das deutsche Volk trotz zahlreicher Veröffentlichungen über den 20. Juli noch immer sehr unvollständig und ungenau über die wahren Zusammenhänge und Ereignisse informiert. Immer wieder stößt man auf Verständnislosigkeit, Gleichgültigkeit, teilweise sogar Böswilligkeit. Ich möchte deshalb heute die Gelegenheit benutzen, um die dringende Bitte an die Bundesregierung zu richten, endlich finanzielle Mittel bereitzustellen für eine systematische und objektive Erforschung der Zusammenhänge und Geschehnisse, die im 20. Juli gipfeln. Wir dürfen nicht zulassen, dass eine der größten Taten der deutschen Geschichte entstellt oder bagatellisiert wird.


Zwei Grundgedanken bestimmten das Handeln dieser Männer: das moralische Gesetz ihres eigenen Gewissens und der politische Wille zur Rettung ihres Vaterlandes. Sie wollten der Welt und dem deutschen Volk beweisen, dass die Identifizierung Deutschlands mit dem Nationalsozialismus nicht nur unberechtigt, sondern dass im Gegenteil das Bekenntnis zum sittlich Guten und die Bereitschaft, für dieses Ideal das Leben einzusetzen, trotz allem das bestimmende Element des deutschen Volkes geblieben war. Und sie wollten trotz der unvermeidlichen Katastrophe versuchen, zu retten, was von Deutschland zu retten war: Menschen, materielle Güter und das staatliche Gefüge.


Der sichtbare sofortige Erfolg ist der Tat versagt geblieben. Noch fast ein Jahr sind Hass und Gemeinheit, Blut und Tränen, Gewalt und Verbrechen über das deutsche Volk und andere Völker hinweggegangen. Aber die Tat dieser Männer des 20. Juli wirkte wie ein Fanal. Es rüttelte die Menschen auf. Es machte ihnen klar, wo die höchsten Werte des menschlichen Lebens liegen. Es gab ihnen die Kraft und die Fähigkeit, das nationalsozialistische Gift im Geiste zu überwinden. Diese Folgen ihrer Tat haben die Männer des 20. Juli erhofft und auch erwartet. Bei allem leidenschaftlichen Willen zum Erfolg sahen sie doch in der Tat als solcher das Wesentlichste. Aus dieser Überzeugung schöpften sie die Kraft für die Art, wie sie das Scheitern ihres Befreiungsversuches ertrugen.


Sie wird mir immer unvergesslich bleiben: diese letzte Stunde, die ich hier mit diesen Männern in der Bendlerstraße zusammen sein durfte, als das Scheitern der Aktion feststand. Da war keine Resignation, und da war keine Lethargie, sondern da waren Stolz und Würde, an die man nur mit tiefster innerer Erschütterung zurückdenken kann. Diese Männer, die das Tal des Todes vor Augen hatten, wussten, dass sie durch dieses Tal hindurch in die Unsterblichkeit schreiten würden. Und sie starben in der festen Überzeugung, durch ihre Tat und trotz des äußerlichen Misslingens das Fundament für eine sittliche und materielle Erneuerung ihres Vaterlandes gelegt zu haben.


So steht ihre Tat als ein leuchtendes Mahnmal für künftige Generationen, jeden einzeln mahnend, nach seinem Gewissen zu entscheiden und zu handeln, wenn die Grundwerte menschlichen Lebens bedroht werden durch Gewalt oder Unmoral. Dieses Vermächtnis haben sie uns als Verpflichtung hinterlassen; und wir können das Andenken dieser Männer nicht besser ehren, als dass wir durch die Tat beweisen, dass wir ihres Opfers würdig sind. An dieser Bewährungsprobe wird unsere Generation einst gemessen werden.


Ich möchte schließen mit den Worten, die mein Schwiegervater mir hier in der Bendlerstraße in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli kurz vor seinem Tode sagte: „Ich weiß nicht, wie eine spätere Nachwelt über unsere Tat und über mich urteilen wird. Ich weiß aber mit Sicherheit, dass wir alle frei von irgendwelchen persönlichen Motiven gehandelt und nur in einer schon verzweifelten Situation das Letzte gewagt haben, um Deutschland vor dem völligen Untergang zu bewahren. Ich hoffe, dass unsere Nachwelt das einst erkennen und begreifen wird.“

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